„Gratuliere zum Ausstieg! Aber dass du deinen Glauben verloren hast, ist schon schade.“
Ich habe im Zuge meiner Dekonstruktion meinen Glauben abgelegt und durch diesen Prozess so unglaublich viel gewonnen, dass es weh tut, wenn Menschen meine Entscheidung gegen den Glauben einen Verlust nennen. Was gibt einem Menschen das Recht, das Glück eines anderen Menschen einen Verlust zu nennen, nur weil sich die Schlüsse nicht mit den eigenen decken? Heute möchte ich euch vom ersten, meiner Ansicht nach größten meiner Gewinne erzählen.
Phil Drysdale erklärt eines der Ziele eines Dekonstruktionsprozesses im Hinblick auf den Glauben so:
„Holding your new belief with less certainty than you held your old belief.“
Und genau darin liegt für mich der Schlüssel und Punkt 1 der großen Gewinne meiner Dekonstruktion: ich habe den Wahrheitsanspruch aufgegeben und darin die größte Freiheit gefunden.
Ich musste mir eingestehen, dass ich schon einmal im Leben massiv falsch gelegen habe und (zu meiner Bestürzung!) für diese alten Überzeugungen bis in den Tod gegangen wäre.
Früher gab ich vor, offen für die Stimme Gottes und Menschen zu sein… Gleichzeitig hatte ich auf alles schon die Antwort. Mein Weltbild hätte wohl kaum mehr schwarz-weiß sein können, als es nach dem Aufwachsen in meiner Heimatgemeinde war. Ergebnisoffen an eine Sache heranzugehen war mir fremd, denn die Antwort war immer mein evangelikaler Gott. „Jesus ist die Antwort!“ war nicht nur ein Slogan, es war meine tiefste Überzeugung. Alle anderen Antworten tat ich ab als „verblendet“, „weltlich“ oder „unbiblisch“. Es gab für mich schlicht keine andere Option, und dass dieser Gott vielleicht gar nicht existiert, kam mir nicht einmal in den Sinn.
Und dann kam die Dekonstruktion, und wie ein Wirbelwind hat sie mir diese Sicherheit ausgetrieben. Nie wieder will ich mir einer Sache so sicher sein. Nie wieder will ich mir anmaßen, in Besitz der „absoluten Wahrheit“ zu sein, auf dem „einzigen richtigen Weg“ zu sein. Weil mich diese Denkweise vergiftet hat und weil ich heute weiß, wie viel Freiheit jenseits eines solchen Wahrheitsanspruchs liegt. Vieles ist heute anders, und wo früher alles schwarz-weiß war, ist heute so manches einfach grau. Wunderschön grau.
Heute kann ich mich Atheistin nennen und gleichzeitig nicht im Geringsten das Bedürfnis empfinden, andere zu Atheist:innen machen zu wollen. Heute sehe ich verschiedene Religionen und Weltanschauungen als Linsen, durch die Menschen die Welt betrachten, und nicht länger automatisch als eine Bedrohung. Im Gegenteil, ich finde Freude darin, durch Gespräche mit anderen Menschen die Schätze zu entdecken, die in ihren Lebenserfahrungen und Weltanschauungen liegen und auch mir zu einem Gewinn werden können. Ich finde kaum Worte dafür, um die Last zu beschreiben, die mir von den Schultern gefallen ist, als ich mich nicht länger für die Verkündigung der Wahrheit und das Seelenheil anderer Menschen verantwortlich gefühlt habe.
Ich weiß, dass auch meine atheistische Weltanschauung nur eine Linse ist. Von allen Linsen, die ich bisher getragen habe, ist es sie, die mir das schärfste Bild liefert. Aber was bleibt ist das Wissen, dass auch sie nur eine Linse ist, und meine Bereitschaft, sie auszutauschen, sollte es eines Tages genügend Gründe dafür geben.
Wenn Dekonstruktion bedeutet, dass man als eine:r von knapp 8 Milliarden Menschen erkennt, dass jeglicher Anspruch, in Besitz der „einen absoluten Wahrheit für die ganze Menschheit“ zu sein, nur ein toxisches Konstrukt sein kann, das es abzulegen gilt – dann liegt in Dekonstruktion vielleicht der Schlüssel für eine neue Ära von Frieden für diese Welt.
Von Sarah (Instagram: @sarah_schreibt)
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