Ich mag keinen Loverboy-Gott mehr

Content Note: Sexualisierte Gewalt, Victim Blaming

Ich bin 19. Vor fünf Jahren habe ich mich bekehrt. Mein Glaube ist entscheidend auf meiner Heilungsreise von einer psychischen Erkrankung und ich erlebe mich dadurch erstmals gesehen und geliebt.

Er ist 22. Ich treffe ihn das erste Mal auf meiner Abiparty, er riecht unangenehm nach Alkohol, zeigt sich abgeklärt und aufdringlich. Später stellt sich heraus, dass er mit einem Mädchen aus der Jungschargruppe, die ich mitleite, verwandt ist. Er schreibt mir an den Folgetagen, fragt nach einem Treffen, ich lehne mehrmals ab. Er lässt nicht locker, gibt vor, auf einem Spaziergang mehr über unsere Jungschar erfahren zu wollen. Eigentlich will ich ihn nicht treffen, aber gesunde Grenzen lassen meine damaligen Glaubensüberzeugungen nicht zu, schon gar nicht, wenn jemand Interesse an meinem Glauben zeigt. Zum verabredeten Spaziergang kommt er mit dem Auto und bittet mich forsch einzusteigen, um bis zum Rand des Dorfes zu fahren, da seine Beine müde vom langen Arbeitstag seien. Mein Bauchgefühl sagt nein, aber man soll ja „erst nach dem Reich Gottes trachten und sich selbst zurückstellen”. Ich steige ein. Er hält nicht am Ende unseres Dorfes an, sondern fährt einen Spazierweg entlang zu einem abgelegenen Ort. 

Was dann passiert, ist keine bühnenreife Bekehrungsgeschichte, angestoßen durch meinen Gehorsam. Was stattdessen folgt, ist eine Geschichte von sexualisierter Gewalt, über die ich jahrelang schweige. Ich fühle mich schuldig, wertlos und beschmutzt. Nach dem nächsten Gebetstreffen in unserer Gemeinde bitte ich Gott alleine zuhause unter Tränen um Vergebung, flehe ihn an, mich nicht automatisch für Ehe und Familie zu disqualifizieren. Damit ist das Thema scheinbar erledigt, denn – so glaube ich damals – ist Gott gnädig und wirft meine „Sünde” ins tiefe Meer.

Ein paar Wochen später ziehe ich fürs Studium in eine neue Stadt und suche mir eine Gemeinde. Ich möchte weitermachen wie bisher, aber irgendwie scheint nichts mehr zu funktionieren. „Nichts leisten, einfach nur vertrauen“ heißt es und ich schäme mich, dass ich diese scheinbar banale Sache nicht mehr kann. Obwohl es sich oft nicht gut anfühlt, versuche ich, durch das gängige Repertoire an christlichen Praktiken eine lebendige Beziehung zu Jesus zu führen. Vielleicht, weil ich gelernt habe, dass die Aufrechterhaltung der Gottesbeziehung über den eigenen Gemütszustand zu stellen ist, vielleicht auch unbewusst, um ein Stück Heiligkeit wiederherzustellen. Meine Bibel ist hübsch kalligraphiert, meine Outfits für den Gottesdienst sorgsam ausgewählt. Selbstverständlich will ich im Glauben wachsen, mich immer mehr zurückstellen und jedes meiner Bedürfnisse von Jesus stillen lassen – eben so, wie es in christlichen Kreisen gepredigt wird.

Meine Bemühungen schützen mich nicht vor sexueller Belästigung, auch durch Männer in leitender Funktion in christlichen Kreisen. Für mich ist klar, dass das an mir liegen muss, denn „die heiligen, schönen Mädchen werden nicht missbraucht, sondern erzählen ihre christ-centered Lovestory auf der Bühne”. Auch wenn ich mir einen Partner und eine „korrigierende Männererfahrung” wünsche, darf ich das eigentlich nicht zu sehr, weil die Beziehung zu Jesus, an der ich Stück für Stück zerbreche, alles für mich sein soll. Gleichzeitig gehöre ich in der Gemeinde ohne Partner nicht richtig zum erwählten Kreis der bürgerlichen Kleinfamilien und fühle mich im Vergleich zu anderen Frauen minderwertig. Ich halte den Glauben nicht mehr aus.

Ich bin 25. Meine Bibel liegt zerrissen vor mir, die verzierten Seiten auf dem Boden verteilt. Ich bin erschrocken über meine Zerstörungswut, die starken Gefühle, die immer wieder hochkommen und sich nicht in das Korsett der sanften christlichen Frau packen oder wegbeten lassen. Die Papierfetzen auf dem Boden besiegeln nach vielen Zweifeln das Ende meiner Jesus-Beziehung. In den Wochen danach überrollen mich Bilder von damals sowie Schuld- und Schamgefühle, die in christlicher Selbstoptimierung und dem Streben nach der heilsamen Jesusbeziehung ihren Nährboden gefunden haben. Unter Traurigkeit und Leere mischt sich in den Folgemonaten Wut. Wut darüber, dass mir ein männlicher Gott in jeden privaten Lebensbereich sprechen möchte, aber in seinem Buch über sexualisierte Gewalt weitestgehend schweigt. Wut, dass Männer von der Kanzel „100% Hingabe an Gott” predigen, ohne selbst die Konsequenzen davon tragen zu müssen. Wut, dass ein Vergewaltiger als Paradebeispiel für einen Mann nach dem Herzen Gottes gilt. Ekel gegenüber einer romantisch angehauchten Jesusbeziehung. Ich mag keinen Loverboy-Gott mehr, der mich mit seiner Liebe überhäuft, um mich dann für seine Zwecke zu gebrauchen.
Ich bin 29. Irgendwas in mir ist heil geworden. Nicht durch Gebet, sondern durch Therapie, Pole Fitness und Freundschaften zu Menschen, die bei Sex auf Konsens anstatt auf den Ring am Finger achten. Ich lese keine Bibel und führe auch keine Jesusbeziehung. Je mehr Abstand ich zur Kirche gewinne, desto mehr kann ich wieder glauben. In irgendwas bin ich verwurzelt, irgendwas Größeres ist stolz auf mich und meinen Weg. Irgendwas bewegt mich, gut auf mich und andere Acht zu geben und an das Gute im Menschen zu glauben. Immer noch würde ich dieses Etwas „Gott” nennen. Und sie ist so frei, dass ich Abstand zu ihr nehmen darf.

/ anonym

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