Selbstaufgabe bis ins Mark

Vor zwei Jahren, am ersten Weihnachtsfeiertag, habe ich das Onlineangebot von 116117 in Anspruch genommen, um einen Ersttermin bei einem Psychotherapeuten zu vereinbaren. Obwohl ich Nichtraucherin bin, stand ich mit einer angezündeten Kippe auf meinem Balkon, starrte in die kalte Nacht hinein und weinte. Ich war auf der Suche nach einem Ventil – nach etwas anderem, außer zu beten. 

Was war das nur wieder für ein beschissenes Weihnachten? Seit meinem Ausstieg vor einigen Jahren ist nichts mehr wie zuvor. Der Streit mit meinen Eltern ist zwar nicht mehr so akut, aber er schlummert noch im Hintergrund. Jede Bemerkung erzeugt in mir Gefühle der Schuld und Scham, jeder schnippische Kommentar über mein „sündiges Leben” verletzt. Ich würde im Nachhinein sogar sagen, ich verspürte Wut – eine bis dato stark unterdrückte Emotion. 

Einen Fehler, den ich jedes Weihnachten erneut begehe, ist die Rückkehr in meine ehemalige Freikirche. Ein konverservativer, nach außen geschlossener Raum voller Menschen, die ich damals Familie nannte und mich heute mit den Worten begrüßen: „Es ist so schön, dich zu sehen, komm gern wieder regelmäßiger!” Eine dicke Umarmung ohne Konsens folgt, danach ein bedeutungsloser Small-Talk. Komisch, nach meinem Ausstieg hatte sich niemand mehr bei mir gemeldet. 

Der Gottesdienst beginnt und das Musikteam, von dem ich damals ein Teil war, betritt die Bühne. Es werden Lieder gesungen, die mein Kopf noch auswendig kann. Alle erheben sich zu Lobpreis und Gebet. Der Prediger segnet alle im Raum, die Jesus noch nicht – der Blick wandert zu mir – oder nicht mehr kennen. 

Nach dem Gottesdienst will ich einfach nur heim. Das hört zuhause aber auch nicht auf, nein, zuhause wird gebetet, gesungen, die Weihnachtsgeschichte zum x-ten Mal durchgenommen – jedes Mal fällt meinen Familienmitgliedern etwas Neues an der Geschichte auf, ach schön, wie Gott sich doch immer wieder neu offenbart. 

Wir springen einen Tag in die Zukunft, zurück zum Balkon und der Kippe. Ich drücke sie aus, sie hilft mir nicht. Und dann beginne ich zu beten: „Gott, das ist mein letztes Gebet. Ich weiß, dass es dich nicht gibt und wenn es dich doch gibt, dann möchte ich dich nicht kennen. Sorg’ dafür, dass ich einen Therapieplatz bekomme!”

Der Effekt des Betens bleibt aus. Es kommt keine direkte Erleichterung und keine Beruhigung der Gedanken. Es bleiben nur ich und mein Balkon. 

Am darauffolgenden Weihnachten habe ich ein Jahr Psychotherapie hinter mir. Mein Therapeut kannte Freikirchen, wie ich sie erlebt habe, zuvor noch nicht. Dennoch habe ich vieles gelernt. Das möchte ich mit euch teilen:

  1. Meine Gedanken gehören mir. Niemand kann mir etwas eingeben, niemand kann mich beeinflussen. Weder Teufel noch Gott. 
  2. Daraus folgt: Ich habe meine eigenen Bedürfnisse und ich kann auch lernen, diese zu erkennen und danach zu handeln.
  3. Nur weil manchmal die Sehnsucht nach der Freikirche, nach den Liedern und der Gemeinschaft auftaucht, bedeutet das nicht, dass die Gefahr besteht, wieder reinzurutschen. Nochmal: Meine Gedanken gehören mir! Ich entscheide, wie mein Leben verläuft.
  4. Meine Familie will und kann nicht akzeptieren, dass ich nicht mehr glaube. Ich werde keine Entschuldigung für den körperlichen und geistlichen Missbrauch bekommen, auch wenn ich mich danach sehne. Diese zwei Dinge können für mich persönlich koexistieren. 
  5. Wut ist eine Emotion, die wichtig ist und auch nach außen treten darf. Es gibt keinen Grund diese zu verstecken. 
  6. Manche christlichen Werte darf ich weiterhin beibehalten. 
  7. Freiheit entsteht dort, wo ich sie mir suche. Es gibt für mich keine Freiheit in Christus. Stattdessen kann ich diese nun Stück für Stück außerhalb der alten Glaubenssätze finden. Und ja, diese Freiheit ist real. 

Es gab noch einige Learnings mehr, die sprengen jedoch den Rahmen. Wer Therapie braucht, darf sich welche suchen, damit nehme ich niemanden den Platz weg. Heute gehe ich an Weihnachten nicht mehr in die Freikirche. Dies ist eine Grenze, die ich mir gesetzt habe. Weihnachten ist für mich ein Fest, das ich trotz meines Nichtglaubens wieder feiern kann. Als Christin habe ich mich immer über die „weltlichen Menschen” aufgeregt, wie sie ein „so wichtiges Fest” so ausschlachten können. Heute bin ich eine von Ihnen. Ich feiere die Gemütlichkeit, die Vorbereitung aufs neue Jahr, die Zeit mit meinen Freund*innen und tatsächlich auch, dass die Welt für eine Woche einfach mal ein bisschen leiser ist. Und damit geht es mir zum ersten Mal richtig gut. 

/ Elo

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