An mich

Content Note / Inhaltshinweis: Thematisierung von sexualisierter Gewalt, körperlicher Gewalt im Häuslichen, Purity Culture

Ich sage mir selbst: Es ist einfach nicht wahr, dass in meinem Leid etwas Gutes zu sehen ist. Ich will nicht dankbar sein, dass ich niedergemacht worden bin. Ich bin wütend, traurig, verloren. Was zur Hölle war denn bitte gut daran, dass mir als geschiedene Frau gesagt wurde, dass ich zu meinem Mann zurück gehen soll, weil ich noch ihm gehöre? Was zur Hölle hat mir zum Wachstum verholfen, als ich mich immer rechtfertigen musste, dass ich aus einer Ehe mit häuslicher Gewalt geflohen bin und zugleich noch dazu verdammt wurde, nie wieder heiraten zu dürfen? Was zur Hölle war ein Segen daran, dass mir Menschen versucht haben einzutrichtern, dass ich nun eine „verbrauchte“ Frau bin, die in christlichen Kreisen keinen Mann mehr finden wird, weil ich keine Jungfrau mehr bin? Was zur Hölle war mein Glück daran, dass ein Pastor mich angegraben hat und ich nicht ernst genommen wurde, als ich dies dem Kirchenvorstand gemeldet habe? Was zur Hölle ist denn angenehm daran, dass ich ohne Panikattacke keine Kirche mehr betreten kann? Und was zur Hölle war freundschaftlich daran, dass fast mein ganzes Netzwerk auf einmal wegfiel, als ich aus der Freikirche ausstieg und „Freund:innen“ mich nachträglich noch zurückholen wollten und mich dann von oben herab behandelt haben, als ich eben nicht wieder zurückkam?

Ich sage zu meinem heutigen Ich: Du brauchst nicht mehr an die Hölle zu glauben. Die Menschen haben bereits auf dieser Welt eine Hölle erschaffen. Aber: Du kannst deine Heilung aufbauen. Es gibt sie – die Menschen, wo du Ruhe findest und einfach sein darfst. Nimm dir Zeit, sie zu finden. Finde sie aus Geduld und nicht aus Verzweiflung. Sei nicht schreckhaft, lass dich auf sie ein, wenn du sie gefunden hast. Es ist schwierig, denn in deinem Kopf wurden so oft Synapsen für das Unaushaltbare, das Schmerzhafte verknüpft. Es wird Arbeit bedeuten, nun neue Synapsen zu legen und die alten Verknüpfungen nicht mehr dauerhaft zu befahren. Du wirst Zeit brauchen, dich auf neue Menschen einzulassen. Nimm dir Zeit für Verwirrung, wenn dir auch mal etwas Gutes passiert. Dein Kopf – deine Seele – muss noch hinterher kommen. Zerdenke nicht alles. Lass das Gute zu. Suche nicht nach dem, was du gewöhnt bist. Suche nach dem Neuen,  was dir wirklich gut tut. Glaube an das Gute und nicht nur an das Böse. Auch in dir. Es werden auch einsame Zeiten auf dich zukommen. Aber genau darin kann deine Heilung liegen. Du wirst zu dir selbst finden. Du wirst dich selbst halten können. Du wirst von ausgewählten Menschen gehalten werden, die über deine Mauern steigen dürfen. Du wirst zusammenwachsen. Du wirst lebendig werden.

Anonym

Hier geht es zum Beitrag auf Instagram