Brief an mein jüngeres Ich

Inhaltshinweis / Content Note: Thematisierung von Purity Culture

Nun sitze ich da, denke an dich. Und überlege mir, was ich dir schreiben soll. So viele Jahre sind vergangen und ich spüre immer noch deine Gefühle. Deinen Schmerz. Deine Unruhe. Deine Ängste und Sorgen.

Du fühlst dich falsch, unweiblich, ungeliebt und vor allem wertlos. Gut, dass es Regeln gibt, die du einhalten kannst. Keine Zärtlichkeit, keine Liebe, keine Berührungen, nach denen du dich so sehr sehnst. Nein. Enthaltung. Zu gross wäre der Fall, die Hölle wäre dir gewiss. Wenn andere sich aneinander freuen, ausprobieren, vergnügen und sich keine Sorgen machen, hältst du dich zurück. Beobachtest und weinst. Du weisst, es ist der falsche Weg. Sie laufen ins Verderben. Du musst stark sein, nicht nur für sie, sondern auch für dich. Ein unbedachter Tritt und es ist aus.

Klar, auch das passiert in deinem Leben. Du bist jung, willst entdecken, Erfahrungen sammeln. Doch es zerreisst dich schier, die Spannung von wollen und nicht dürfen. Von Sehnen und Verboten sein.

Du urteilst, wertest, wenn du andere siehst. Ich werfe dir nichts vor, denn genau so hast du es gelernt. Du möchtest es doch richtig machen, für sie da sein. Nicht für dich selbst, nein, dein Auftrag ist die ANDERE Person. Nicht deine Bedürfnisse zählen, sondern die der anderen. Im Bus betest du für den besoffenen Mitfahrer. Am Bahnhof für den Drogenabhängigen. Zu Hause im Bett für deinen abweisenden Schwarm. SIE alle brauchen dein Gebet. Deine eigenen Wünsche sind unwichtig!

Und so verläuft deine Pubertät. Deine religiöse Mutter wacht über dir, erhebt den Mahnfinger, wenn du Alkohol getrunken oder geraucht hast. Der Jugendprediger spricht von seinen sexuellen Fehltritten und verbietet sie dir. Du hörst zu, ganz genau, denn du liebst Gott. Er ist dein Leben, deine Hoffnung, ein aufflackerndes Licht in dieser Dunkelheit, die du von Kopf bis Fuss spürst. Alles kann aus sein, auf einen Schlag, der Weg ist so verdammt schmal. Du fürchtest dich vor dem Fall, der Lauheit, der manchen Christ*innen prophezeit worden ist. Möchtest du zu denen gehören? Gewiss nicht. Ewige Schande im Himmel? Markiert sein? “Ach siehe, sie hat es nicht geschafft.” Nein, nichts für dich. Umso strenger möchtest du das Reglement einhalten. Bittest um Vergebung, fällst nach dem Ausgang auf die Knie. Siehst jeden Schmerz als Strafe Gottes für dein falsches Handeln. Dabei hast du nie, wirklich NIE etwas Schlimmes gemacht. Du warst einfach nur jung und hast begonnen, das Leben ausserhalb deines Elternhauses zu entdecken. Und das war ok.

Doch wenn ich dir das so schreibe, dann bin ich mir auch nicht sicher. Weil ich jetzt, 20 Jahre später, immer noch Zweifel habe. Und trotzdem hoffe, dass die Liebe deinen Schmerz in meinem Herzen heilt.

Rahel

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