Der Weg, der immer meiner war

Content Note: Erwähnung von purity culture, Geschlechtsdysphorie

Es ist so weit. Ich hole tief Luft. Vor mir hängt der Postkasten an einer Mauer, schmutzig-gelb leuchtend in der Dunkelheit. Es ist fast Mitternacht, der 30. Juli geht gerade in den 31. über. Ein kleines Schild informiert, dass der Briefkasten am Nachmittag geleert wird.

Die innere Anspannung war unerträglich geworden, also habe ich einen langen Spaziergang hierher gemacht, mit einem Umweg durch den Wald, um in der nächtlichen Stille meine Gedanken ordnen zu können. Ich hätte auch direkt zum Standesamt gehen können, doch der Brief darf nicht zu früh eintreffen – nicht vor dem 1. August.

Der 1. August – in diesem Jahr ein magisches Datum. Der erste Teil des neuen Selbstbestimmungsgesetzes in Deutschland tritt in Kraft. Endlich kann ich die Änderung meines Geschlechtseintrags und meiner Vornamen anmelden, ohne dafür eine Unsumme an Geld ausgeben zu müssen, die ich nicht habe, und ohne mich demütigenden Fragen aussetzen zu müssen.

Fragen, die für Menschen aus einem toxischen, christlichen Milieu schwierig sind. Fragen wie diese:
„Sie haben also mit 30 Jahren noch keine Beziehung gehabt?“ Der Psychiater runzelte die Stirn, als er seine Frage wiederholte. Es war, als wollte er sagen: „Mit Ihnen stimmt etwas nicht.“

„Nein.“ Meine Antwort war nüchtern und knapp. Was ich wirklich dachte, sagte ich nicht laut: „Dumme Frage, natürlich nicht. Ich habe gerade ein religiöses Umfeld verlassen, in dem Beziehungen verboten sind. Aber das kann ich Ihnen nicht erzählen, weil ich Angst habe, die Leute dort in ein schlechtes Licht zu stellen. Gott könnte mich dafür bestrafen.“

Dieses Gespräch fand wenige Wochen nach meinem endgültigen Austritt aus einer christlichen Sekte statt. Ich war nach meinem Ausstieg mit schweren Depressionen zusammengebrochen und hatte mir Hilfe geholt – nachdem mir andere Freikirchler versichert hatten, das sei schon okay so und kein Zeichen mangelnder Demut, wie ein Pastor aus meiner Sekte zu predigen pflegte.

Ein Ausstieg ist jedoch nur ein Anfang; du kannst aus einer Sekte aussteigen, aber die Sekte steigt nicht einfach so aus dir aus. Es kostet Jahre der Aufarbeitung, und diese Zeit hatte ich damals noch nicht gehabt.

Über Geschlecht und Geschlechtsidentitäten sprachen wir nicht. Und dennoch hat er meine Geschlechtsdysphorie bemerkt und später in seinem Arztbrief vermerkt. Dieser kurze Hinweis, fast beiläufig aufgeschrieben, bedeutete für mich ein schmerzhaftes Erkennen: Ich wurde gesehen, ohne wirklich verstanden zu werden. Denn hätte er nicht mit mir darüber reden müssen?

Lange Jahre christlich motivierter Gewalt, Erpressung und Manipulation hatten meine Persönlichkeit nicht auslöschen können. Sie hatten mich brechen wollen, doch irgendwo tief in mir hatte immer ein Funke überlebt. Ein Funke, der jetzt zu einem Feuer geworden war, das mich dazu brachte, hier vor diesem Postkasten zu stehen – wahrscheinlich als das erste ehemalige Mitglied dieser Sekte, das den Geschlechtseintrag ändern lassen will.

Es ist ein einsamer Weg, den ich gehe, aber es ist auch ein Weg des Triumphs. Hier zu stehen, mit dem Brief in der Hand, bedeutet mir alles. Das ausgefüllte und unterschriebene Formular des Standesamtes, das mein Geburtsregister führt, und ein Begleitschreiben an das Standesamt, in dem ich die Erklärung in drei Monaten abgeben will. Alles fein säuberlich vorbereitet und als Einschreiben frankiert, nur um sicherzugehen, dass nichts schiefgeht.

Für einen Moment steigt die vertraute Angst wieder hoch: Überlege es dir noch einmal, du kannst den Brief wieder mit nach Hause nehmen. So viele Gefahren sind damit verbunden – denk an die Hetze, den Hass. Überall lauert die Ablehnung: in den religiösen Gemeinden, in der Familie, in der Gesellschaft. Sie alle haben ihre Ansichten über dich, und es sind keine, die dich wertschätzen oder respektieren.

Doch diesmal kommt die Angst nicht weit, denn ich habe mich längst entschieden. Es geht nicht mehr darum, was andere denken, es geht nur noch um mich. Mein Leben, meine Freiheit. Ich wiederhole es: Mein Leben, meine Freiheit!

Entschlossen werfe ich den Brief in den Kasten. Dann drehe ich mich um und balle triumphierend die Hand. Ich habe meine Angst überwunden, den Konversionsversuchen von früher den Stinkefinger gezeigt und die Verantwortung für meine Person übernommen. Ich bin endlich auf dem Weg, der immer meiner war.

/Robin

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