Die fromme Familie und das innere Kind

Die fromme Familie glaubt sich zu vielem im Stande. Das Kind zu behüten, vor dem Weltlichen, vor dem, was dem Fleische verfallen ist. Dem Kind die Liebe Jesu zukommen zu lassen, das Bestmögliche – besser als jede Elternliebe jemals sein kann. Sie glaubt sich im Stande, das Kind gottgefällig zu formen, nach bestem Wissen und Gewissen. Dem Kind Gottes festgeschriebenen Plan mitgeben zu können, in all seiner unangefochtenen Heiligkeit. Doch es gibt viel, was die fromme Familie nicht vermag.

Die fromme Familie ist nicht im Stande, dem Kind seine dämonische Todesangst zu nehmen. Sie ist nicht im Stande, dem Kind Werkzeuge der Selbstwirksamkeit in die Hand zu geben, mit denen es selbst aus der Todesangst herausfinden könnte. Stattdessen wird mit dem Kind gebetet, dass Gott es durch seine Angst leitet, dass Gott ihm Kraft gibt, die Angst auszuhalten. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt, säuselt die fromme Familie zu später Stund’ am Kinderbett. Beruhigend. Aber was, wenn Gott nicht will? 

Die fromme Familie ist nicht im Stande, das Kind emotional an erste Stelle zu stellen. Denn die unangefochtene erste Stelle ist für Jesus reserviert. Die fromme Familie ist nicht im Stande, dem Kind dabei zu helfen, einen eigenständigen, resilienten Charakter zu formen. So antwortet es stets auf die Frage: „Und wer bist du?“ mit „Ich bin Kind Gottes“, was aber rein gar nichts über das menschliche Kind aussagt. Die fromme Familie ist nicht im Stande, dem Kind beizubringen, dass es mehr ist als nur ein Gefäß Gottes. Das ist nicht vorgesehen. Ebenso wenig, sich abzugrenzen von der von den frommen Eltern zensierten Welt. Sich zu fragen, wie geht es mir damit? Was kann ich für mich tun? Was sind meine Werte, die für mich als Maßstab gelten sollen?

Die fromme Familie ist somit nicht im Stande, dem Kind Fähigkeiten der Selbstreflexion zu vermitteln. Entfernt sich das Kind irgendwann von Gott oder dem Gemeindeumfeld, versagt die fromme Familie noch viel mehr. Die fromme Familie ist nicht im Stande, die „Abtrünnigkeit“ des Kindes zu akzeptieren. Würde sie sich doch versündigen, das verlorene Schaf im Dornbusch zappeln zu lassen. Die fromme Familie ist nicht im Stande, eine wahrhaftige Beziehung der Akzeptanz zum abtrünnigen Kind aufzubauen. Die fromme Familie ist nicht im Stande, die Übergriffigkeit zu sehen, die das abtrünnige Kind bei jedem Gebet, bei jedem Segen, bei jeder Aufforderung zur Umkehr auf den rechten Weg empfindet.

Das abtrünnige Kind, mit all seinen kindlichen Gefühlen und (ungestillten) Bedürfnissen, stellt im Erwachsenenalter irgendwann das Konzept für das innere Kind dar. Das innere Kind, das zu lange in schlechten Situationen verweilt, weil ja schließlich auch das Volk Israel vierzig Jahre durch die Wüste geschickt wurde. Und überhaupt, weil die Bibel ohne Leiden 480 Seiten weniger hätte. Das innere Kind, das so viele Umwelteinflüsse direkt auf sich bezieht und sich nicht davon abgrenzen kann, weil früher alles im Innen und im Außen zu Gottes undurchsichtigem Plan gehörte und somit eine direkte Betroffenheit schaffte. Das innere Kind, das nach all den Jahren der Zensur ständig das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben. Wie Harry Potter. Dinosaurier-Fakten. Philosophie. Evolutionäre Sichtweisen. Bücher. Sexuelle Identitätsfindung. Rausch. Musik. Sogar langweilige Mandalas. Das innere Kind, das stets das Gefühl hat, nicht gut genug zu sein. Leistung bringen zu müssen, heilig sein zu müssen, lieb sein zu müssen, nicht lügen, nicht fluchen, nicht Gottes Namen lästern, nicht schwören, nicht hassen, nicht widersprechen. Doch das innere Kind kann auch ohne die fromme Familie heilen und wachsen, manchmal sogar besser. Es kann erkennen, dass viele schlechte Glaubenssätze schlichtweg Überlebensstrategien waren. Es kann erkennen, dass das kleine Kind sich nicht versündigt hat, dass es nichts falsch gemacht hat, dass es schon immer gut genug war.

Richte dir und deinem inneren Kind einen Raum in deinem Leben ein. Einen versöhnlichen, geschützten Raum, in dem man nicht sündigen kann und Angst keine Macht hat. Einen Raum, der dir und deinem Wesen mit all deinen Talenten und Fehlern entspricht. Der dafür da ist, auf deine Bedürfnisse zu hören. Der dazu dient, Stress zu bewältigen und sich eine Pause zu gönnen.

Anonym

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