ICH sein

Inhaltshinweis / Content Note: Erwähnung von körperlicher Gewalt

ICH 
Am Anfang war ich,
und wie jede:r war ich dazu bestimmt, ICH zu werden.
ICH zu wachsen
ICH zu leben.
um ICH zu sein.
Aber während ich war 
auf dieser Welt
wurde ich nicht ICH.
Ich wuchs und ich war.
Ich wurde Tochter, Enkelin, Schwester, Gotteskind, Gemeindemitglied, Mädchen, Schülerin, Klassenkameradin, Freundin, Nachbarin, Frau, Auszubildende, Arbeitnehmerin, Verlobte, Ehefrau, Schwiegertochter, Mutter…
Manches davon war ich gleichzeitig und bin es noch.
Aber niemals war ich ICH
niemals lebte ich ICH.
Alles was ich war und noch bin
war verbunden mit Regeln,
mit Vorstellungen von Gott oder Menschen,
die mich gelehrt wurden zu erfüllen.
Niemals wurde ich ICH gelehrt.
ICH zu fühlen.
ICH zu wünschen.
ICH zu sein.
Ich ahnte immer,
ICH zu sein muss anders sein.
ICH zu sein heißt frei zu sein.
Versuchte ich einmal ICH zu sein,
ICH zu zeigen,
hörte ich Worte
unghorsam, sündig, egoistisch und nicht gottgefällig
wurde ich gemaßregelt, geschlagen, ignoriert und ausgegrenzt.
Ich verstand,
ICH zu sein,
ICH zu leben
ist Sünde und Ungehorsam gegen Gott und Menschen.
ICH zu sein
ICH zu leben
ist gefährlich und schmerzhaft.
Ich wollte nicht mehr ICH sein,
nicht mehr ICH leben
Ich lebte Tochter, Enkelin, Schwester, Gotteskind, Gemeindemitglied, Mädchen, Schülerin, Klassenkameradin, Freundin, Nachbarin, Frau, Auszubildende, Arbeitnehmerin, Verlobte, Ehefrau, Mutter zu sein
Lange Zeit lebte ich so
bis ich eines Tages
NICHTS mehr sein wollte.

Nach diesem Tag lernte ich 
ICH zu sein
ICH zu leben
darf sein.
Ich darf sein
darf ich sein
Ich bin immer noch Tochter, Enkelin, Schwester, Gotteskind, Gemeindemitglied, Mädchen, Schülerin, Klassenkameradin, Freundin, Nachbarin, Frau, Auszubildende, Arbeitnehmerin, Verlobte, Ehefrau, Mutter…
manches davon bin ich nicht mehr,
manches davon bleibe ich immer.
Ich entscheide
wie ich es sein möchte
wie ich ICH sein möchte.
Und auch heute lerne ich,
ICH sein ist gefährlich und schmerzhaft.
Menschen mögen ICH nicht
Menschen wenden sich ab.
Weil sie ICH nicht kennen
weil ICH ihnen Angst macht.
Für mich heißt das heute
ICH zu sein macht einsam.
Und das bin ich heute
zusätzlich zu allem anderen,
einsam.
ICH zu sein
kostet Kraft
weil ich es nie war.
Ich lerne,
ICH zu fühlen
ICH zu wünschen
ICH zu sein.
Und irgendwo tief in mir
ist die Hoffnung,
ICH wird geliebt
ICH ist wertvoll.
vielleicht kann ICH das irgendwann glauben.
und dann wäre ICH nicht mehr
einsam.
Sondern frei.

Ulrike

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