Vom Aufwachsen in Freikirchen, „Kein Sex vor der Ehe“ und unserer Hochzeit als ich 19 war.
Mein Mann und ich sind beide in Freikirchen aufgewachsen und haben uns, als wir 13 und 15 waren, auf einer auf einer Straßenevangelisation kennengelernt. Es dauerte nicht lange, bis wir uns Hals über Kopf ineinander verliebt hatten und ein Paar wurden. Und während wir bis zu unserer Hochzeit 6 Jahre später dabei zusahen, wie in unseren Freikirchen ein junges Paar nach dem nächsten zum Altar schritt (oft nach wenigen Monaten Beziehung, denn was kann schon schief gehen, mit Jesus als „dritter Schnur im Bunde“?), waren unsere Eltern, Pastoren, Jugendleiter_innen und teils sogar Freund_innen enorm darauf bedacht, uns vor uns selbst zu beschützen und sicherzustellen, dass wir uns vor unserer Hochzeit körperlich nicht zu nahe kommen würden.
Immer wieder wurden uns Teenager_innen in Jugendstunden, die manchmal auch nach Geschlecht getrennt abgehalten wurden, die hohen Standards der „Purity Culture“ gepredigt und uns so sehr eingebläut, dass es uns als das einzig Normale und Richtige erschien, uns an sie zu halten. „Rein“ zu bleiben, also bis zum Tag der Hochzeit mit Sex und zu viel Körperlichkeit zu warten, war für uns ein Zeichen der Liebe und des Gehorsams gegenüber Gott. Es war für uns ein Ausdruck unseres Willens, unsere ach-so-irdischen, unbedeutenden Wünsche seinen Geboten zu unterstellen und damit die besten Voraussetzungen für eine gesegnete Ehe zu schaffen. Es hat damals alles so viel Sinn gemacht – ein Mann, eine Frau, ein geschützter Rahmen. “Wahre Liebe wartet”.
Wir liebten diesen Gott und waren überzeugt, dass das „Warten“ nur zu unserem Besten sein würde… und es fiel uns so schwer. Es fühlte sich an wie ein jahrelanger Kampf gegen uns selbst, wir waren jung und verliebt und liebten die Nähe des anderen mehr als alles sonst. Wir empfanden diesen Wunsch nach körperlicher Nähe als Problem, und die Schuld dafür suchten wir immer bei uns selbst. Einige Male waren wir so am Verzagen an uns, dass wir glaubten, unsere Beziehung beenden zu müssen, um uns ja nicht zu versündigen.
Wie sehr haben wir uns all diese Jahre darauf gefreut, endlich alt genug zu sein, um auch heiraten zu dürfen und eines der verheirateten Paare zu sein – von der Gemeinde als vollwertiges Paar anerkannt zu werden, endlich eigene vier Wände haben zu dürfen, gemeinsam verreisen zu dürfen, sich zurückziehen zu dürfen und niemandem mehr Rechenschaft über Intimität schuldig zu sein.
Einige Male haben wir gesehen, was passiert, wenn man sich nicht an die Regeln hielt – ein Ausschluss aus allen Funktionen und Ämtern in der Gemeinde für all jene, die es mit dem „rein bleiben“ nicht so genau genommen und somit ihre vermeintliche Vorbildfunktion verloren hatten. Wir wurden Zeugen von Rauswürfe aus dem Lobpreisteam oder das Ablehnungen von Mitgliedschaftsanfragen, wenn Menschen die sexuellen Reinheitsansprüche der Freikirche nicht erfüllen konnte – ihre Sexualität also nicht ausschließlich innerhalb einer heterosexuellen Ehe auslebten.
Wir haben geheiratet, als ich 19 war. Heute weiß ich, dass ich mit 19 noch keinen blassen Schimmer davon hatte, wer ich bin und was ich vom Leben wollte. Und der Segen für das Warten, für all diese Jahre des Kämpfens gegen uns selbst, ist ausgeblieben. Die Folgen davon, wenn jungen Menschen in prägenden Jahren immer wieder gesagt wird, dass ihr Körper und ihr Bedürfnis nach Nähe bis zum Tag der Hochzeit tabu sind, und dass falsch gelebte Sexualität in den Augen ihres Gottes ein Gräuel ist, haben sich für uns als verheerend herausgestellt. Ich fühlte mich nach all diesen Jahren entfremdet von mir selbst und meinem Körper und ich hatte lange damit zu kämpfen, die Schuldgefühle rund um Sexualität abzulegen.
Es gibt nichts, das dagegen spricht, wenn sich Menschen aus freien Stücken dafür entscheiden, mit Sexualität warten zu wollen – aber dass in Freikirchen der Entschluss, das nicht zu tun, als Sünde bezeichnet wird und Menschen so viel Druck gemacht wird, finde ich unendlich traurig. Das Trauma, das dadurch entstehen kann, habe ich am eigenen Körper erlebt.
Heute erfüllt es uns mit viel Wut, dass wir damals ohne jegliches Hinterfragen toleriert haben, dass uns Menschen von außen („Autoritätspersonen“ aus der Gemeinde) Vorgaben zu unserer Sexualität machen durften. In unserem Ehevorbereitungskurs wurden wir einige Male gefragt, wie gut wir es mit dem “Reinbleiben” geschafft hätten. Auch dagegen haben wir keinen Einspruch erhoben – Respekt und Unterordnung waren durch das Aufwachsen in der Freikirche so selbstverständlich für uns, dass wir nicht einmal daran dachten, gegen solche grenzüberschreitenden Fragen und Eingriffe in die Privatsphäre zu rebellieren.
Jetzt, bald 5 Jahre nach unserer Hochzeit, nach Jahren des Suchens, des Dekonstruierens und des letzendlichen Abnabelns von Freikirche und Glaube, sehen wir, dass unsere Entscheidung zur Hochzeit nicht aus freien Stücken war. Sie war ein Erfüllen von Bedingungen, um endlich das zu dürfen, was für die meisten jungen Menschen außerhalb von Freikirchen die Norm ist. Wir fühlen uns heute beraubt um viele Dinge – in unserem eigenen Tempo einen natürlichen, selbstbestimmten Zugang zu Sexualität finden zu dürfen, die Freiheit, selbst herausfinden zu dürfen, welche Beziehungsform zu uns gepasst hätte – und für den Fall, dass wir auf den Entschluss „Ehe“ gekommen wären, diese jenseits von irgendwelchen Bedingungen schließen zu dürfen – und nicht, um Sex haben zu dürfen, ohne dadurch einen Skandal auszulösen.
Mittlerweile ist das, worauf wir damals vor dem Altar gelobten, unsere Ehe zu gründen, weggebrochen – die dritte Schnur im Bunde hat sich in Luft aufgelöst. Was bleibt, wenn der gemeinsame Glaube eines Tages nicht mehr da ist? Wenn sich das, was einem immer als Fundament gepredigt wurde, als Illusion erwiesen hat? Heute wissen wir, dass wir etwas wie eine dritte Schnur im Bunde nie gebraucht hätten. Dass es immer unsere Liebe zueinander war, die uns durch all die Jahre durchgetragen hat, selbst durch den Sturm, den die Dekonstruktion unseres vertrauten Glaubenssystems mit sich gebracht hat.
Uns von den Ansprüchen der christlichen Religion zu lösen, war für uns eine Befreiung – für uns als Individuen, als Paar und in unserem Alltag. An ihre Stelle ist Raum für jede Menge Freiheit, Lebensfreude und nur noch mehr Liebe zueinander getreten.
anonym
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