Liebe kleine Meli! – ein Brief an mein früheres Ich

Liebe kleine Meli!

Ich seh dich, umgeben von Freundinnen, bei Rina zuhause. Ihr feiert Lady Gaga und ihren Song „Alejandro“. Die Hälfte von euch, du mit eingeschlossen, tut dies entgegen dem Willen eurer Eltern. Diese Musik ist weltlich, sündig und somit nicht gut für euch, sagen sie.

Oh Meli, in den nächsten elf Jahren wird viel passieren. Ganz vieles wird nicht so kommen wie du dir das vorstellst. Doch glaube mir, am Ende kommt es gut. Unbeschreiblich gut sogar.

Du wirst versuchen, einen lebendigen Glauben zu haben und dein Leben nach christlichen Werten ausrichten. Dabei wirst du einige tolle Momente haben, wirst in der Jungschar echte Gemeinschaft erleben.

Gleichzeitig wirst du auch merken, dass du nicht der Norm entsprichst. Du bist davon überzeugt, dass alle Menschen gleichwertig sind. Und davon, dass Frauen sich nicht ihren Männern unterordnen müssen und auch nicht sollen. Gleichberechtigung geht anders. Du wirst merken, dass sich die Barmherzigkeit Jesu nicht mit den rechten, politischen Parolen der EDU [eine Partei in der Schweiz, Anm. der Redaktion] vereinbaren lassen.

Du wirst neue gute Freund:innen finden. Du wirst zum ersten Mal in deinen Leben eine beste Freundin haben. Eine, die du nicht teilen musst. Dein Selbstvertrauen wird gestärkt werden, weil du Menschen um dich haben wirst, die dich annehmen wie du bist. Du wirst zum Schluss kommen, dass es nicht erstrebenswert ist, einer Norm zu entsprechen. Viel wichtiger wird dir sein, dass du sein kannst wie du bist, ganz authentisch.

Dein kritischer Geist wird vieles hinterfragen, du wirst unzählige Gedankenbarrieren durchbrechen und damit viele überfordern. Zeitweise wirst du mehr Fragen als Antworten haben.

Du wirst lernen, dass du gleich viel wert bist wie deine Mitmenschen, dass wahre Liebe und Anerkennung nicht durch Leistung verdient werden kann. Auf die harte Tour wirst du lernen müssen, was passiert, wenn man sich so sehr verausgabt, dass man sich dabei verliert und nicht mehr alleine auf die Beine kommt. 

Dadurch werden große Steine ins Rollen kommen. Die Kämpferin in dir wird ganz viel zu tun haben. Du wirst lernen, dass es nicht nur okay, sondern gut ist, wenn man Raum für sich einnimmt und es sich toll anfühlt, Grenzen zu setzen. 

Es wird Sachen geben, von denen du denkst, dass sie nur dich beschäftigen. Die Tatsache zum Beispiel, dass dir deine Lehrerin in der Oberstufe auf eine ganz besondere Art gefallen wird. Auf eine Art, die dir durch deinen Glauben verboten ist.  Die damit verbundenen Gedanken wirst du verdrängen, du wirst versuchen sie durch Gebete loszuwerden. 

Deine Intelligenz wirst du nutzen um zu erkennen, dass jeder Mensch seine eigenen Hintergründe hat. Dass Prägung ganz viel ausmacht, man sich diese nicht aussuchen kann, man aber mit bewussten Entscheidungen die Zukunft trotzdem beeinflussen kann. Du wirst auch zu der Überzeugung kommen, dass es einem Menschen nicht zusteht, über andere zu richten. Dank deiner Neugier wirst du eine Offenheit entwickeln, welche dir viele Türen öffnet und dich herausfordert, deinen Glauben komplett zu hinterfragen.

Die Fragen, die du dir bezüglich deiner Sexualität gestellt hast, werden dich wieder einholen. Du wirst dich in eine Frau verlieben, welche zu diesem Zeitpunkt deine beste Freundin ist. Diese Umstände werden dich in eine Situation bringen, die du dir nie im Leben so ausgesucht hättest, wenn du eine Wahl gehabt hättest.

Ganz leise wirst du eine Stimme hören, welche sagt, dass es vielleicht okay ist so zu fühlen und es keine bewusste Entscheidung ist, wen man anziehend findet. Und deine Definition von Sünde wird zu wanken beginnen.

Und eines Tages wirst du dich vom Glauben, den du seit deiner (Wieder-)Geburt kennst, trennen, wirst die Gemeinde und viele Christ:innen hinter dir lassen. Und entgegen der Befürchtung, dass du als verlorene Seele ewig Halt suchend und unglücklich sein wirst, wirst du Freiheit spüren. Eine ganz neue Freiheit. Du wirst zum Schluss kommen, dass du glauben willst, dass Menschen im Grunde genommen gut sind – dass du im Grunde genommen gut bist. Und wir nicht voller Sünde in ein Leben starten, welches ohne einen tatkräftigen Glauben an einen sündlosen Gott und die schrittweise Übernahme seiner Verhaltensweisen umsonst ist. Du kannst dir deine Werte selber aussuchen und wirst so leben wie es sich tief in dir drin richtig anfühlt. Zu dir, deinen neuen Überzeugungen und deiner Sexualität zu stehen, dich nicht länger zu verstecken, wird dich Mut kosten. Doch der Wunsch nach einem authentischen Leben wird grösser sein als deine Ängste. Eine unglaubliche Erleichterung wird dich überkommen und dir zeigen, dass du auf dem richtigen Weg bist.

Und dann irgendwann im Sommer 2021 wirst du in einen LGBTQI+-Club in Zürich eintreten, Lady Gaga wird „Born This Way“ singen, du wirst deinem besten Freund, der dich begleitet, zulächeln, ganz viele gleichgesinnte Menschen werden um dich sein und du wirst spüren, dass du irgendwie angekommen bist. Genau da, wo du hingehörst. Du bist nicht alleine. Im Gegenteil. Und es wird sich richtig anfühlen. Du stimmst in den Refrain ein und tanzt. Bereit für was auch immer kommen mag, im Glauben, dass du verdammt richtig bist, so wie du bist. 

Ganz liebe Grüße aus der Zukunft, 
deine grosse Meli

PS. Fluchen wirst du lieben. Und dürfen. As much as you want to.

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