Missbraucht – Kindheit in einer evangelikalen Freikirche

Triggerwarnung: auf den folgenden Slides wird Psychische Gewalt gegen Minderjährige und Hölle/Satan thematisiert.

Diese Überschrift steht wohl bei vielen Sektenaussteiger:innen als trauriges, oftmals nur schwer erträgliches Fazit unter der eigenen Biografie. Auch ich wurde in einer Freikirche großgezüchtet. Abgerichtet und dressiert darauf, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu kreuzigen und das eigene Ich, das gerade erst begonnene Leben einem riesigen Toten zu opfern.

Seit frühesten Kindertagen wurde mir eingehämmert, als Mensch nicht „in Ordnung“ zu sein. Meine Kindheit erlebte ich – wie sollte es anders sein – als Außenseiter in Schule und Gesellschaft. Während meine Freunde im Fußballverein spielten und später dann in die Disco gingen, musste ich in den Versammlungen jubeln und beten. Dabei überwachte mich ständig ein  strafender Gott, der alles sieht und der den lieben langen Tag nur mit dem Lesen meiner intimsten Gedanken beschäftigt war. Ja, ich kam mir vor wie eine Maschine, die nur für den einen Zweck da war, meine weltlichen Freunde zu missionieren und „Jesus ähnlicher zu werden“. Wie mir dieses erbärmliche Leben doch zum Halse raushing!

Doch damit nicht genug. Im Alter von 12 Jahren versuchte mir ein Prediger den Teufel auszutreiben. Wie das ausging, kann man sich wohl denken – ich verzweifelte immer mehr. Mit 16 Jahren gelang mir dann der physische Ausstieg – leider ohne dass ich auch nur in irgendeiner Form die krankmachenden Glaubenssätze aufgearbeitet hätte bzw. dazu überhaupt fähig gewesen wäre. Und das sollte sich im späteren Leben noch bitter rächen. So ließ mich die Gehirnwäsche, der man mich als Kind unterzogen hatte, lange nicht los. Massive Angststörungen, Zwänge und Depressionen wurden dauerhaft meine Begleiter. Dazu wurde ich später auch noch körperlich schwer krank. Keine Frage: Gottes Strafe. Die negativen Prophezeiungen, die ich von meinen Eltern und den Predigern bei meinem Ausstieg mit auf den Weg bekam wie: „Warte nicht, bis Du in Not kommst“, „Gott findet Dich überall“ u.ä. hatten sich in meinen Augen erfüllt. Völlig verzweifelt bekehrte ich mich erneut und drohte wieder in meine Freikirche abzugleiten.

Erst als ich physisch und psychisch völlig am Ende war, wagte ich es, mir psychologische Hilfe zu holen und begann meine grausame Kindheit und die eingetrichterten, lebenszerstörenden Glaubenssätze aufzuarbeiten. Erschwerend kam ja noch hinzu, dass ich befürchten musste, durch „weltliche“ Heilmethoden wie Psychologie, Yoga, Autogenes Training etc. unter einen dämonischen Bann zu geraten. Und so habe ich allen Ernstes meinen fünften (!) Therapeuten vor meiner Behandlung gewarnt, weil zwei seiner Kollegen im Laufe  meiner Behandlung verstorben waren. Damals verstand ich das noch als Strafe Gottes. Die Dekonstruktion selbst war dann für mich ein jahrzehntelanger Prozess. Mich hat die  Erkenntnis, um meine Kindheit und einen Großteil meines Lebens betrogen worden zu sein, mit ungeheurer Wucht getroffen. Gleichzeitig aber auch in mir mörderische Wut und große Trauer und Angst ausgelöst. Ich las historisch-kritische Bücher und vor allen Dingen machte ich eins: Ich schrieb und schrieb und schrieb mir tage- und nächtelang meine Verletzung und innere Verwüstung von der Seele. Und da ich während dieser Aufarbeitung unentwegt mit seelischen und körperlichen Problemen zu kämpfen hatte, packte mich dutzende Male die nackte Angst: „Hier will mich jemand (Jesus) zum Schweigen bringen. Kriegt er mich am Ende doch?“ 

Internet oder Selbsthilfe-Netzwerke für Aussteiger:innen gab es damals noch nicht. Ob mir damals ein Netzwerk, eins wie dieses hier, bei meinem Ausstieg hätte helfen können? Eindeutig ja; mir wäre viel Leid erspart geblieben! Tausend Dank deshalb an die Menschen, die hier so viel an Zeit und Energie für diese so (überlebens)wichtige Aufklärungsarbeit opfern. Denn der Ausstieg aus einem perfiden, in sich geschlossenen Denkgebäude ist schwierig und mühsam. Mit dem Verstand das Lügenkonstrukt der eigenen Gruppe, das ja oft auch mit positiven Emotionen verknüpft ist, zu durchschauen, ist das eine.. Aber sich einzugestehen und dann auch emotional zu verkraften, dass man von sehr nahestehenden Menschen über viele Jahre hinweg missbraucht wurde, ist nochmal eine ganz andere Sache. Mein Anliegen ist es, darüber aufzuklären, welch ein gigantischer Betrug, welch ein furchtbarer Missbrauch hinter den Mauern scheinbar harmloser Freikirchen geschieht. Und leider „gibt es kein Gesetz, das die Kinder vor der Religionsfreiheit ihrer Eltern schützt“ (Zitat aus dem Buch Sektenkinder). Umso wichtiger ist Aufklärungsarbeit von uns Aussteiger:innen. Und dazu möchte auch ich trotz aller Anfeindungen einen kleinen Beitrag leisten.

Meine Herzensangelegenheit ist es, mein Wissen und meine Erfahrungen zu teilen, um heutigen Kindern dieses Schicksal zu ersparen. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern, aber wir können alle helfen, seelischen Missbrauch zu verhindern. 

Bernd

Hier geht es zum Beitrag auf Instagram