„Wem vertraue ich also?“

Der Pastor einer evangelikalen Freikirche predigte dieser Tage über das Thema „Vertrauen“. Sein Gedankengang war ungefähr folgender: Einzig Gott kann ich uneingeschränkt vertrauen. Wenn ich mein Vertrauen in Menschen setze, bin ich immer in Gefahr, enttäuscht zu werden. Vertraue ich Menschen, die Gott nicht kennen; „Menschen, die gegen Gott Sturm laufen“, so habe ich bereits verloren.

In anderen Worten: Gott muss ich vertrauen. Bibeltreuen Christ:innen kann ich versuchen, zu vertrauen. Es könnte aber sein, dass sie mich enttäuschen. Dem Rest der Menschheit sollte ich misstrauen.

Wie sieht das denn in meiner Realität aus? Gut, ich bin kein Schäfchen des Pastors, und somit gelten seine Ratschläge mir vielleicht gar nicht. Aber mit meinem Glauben ist es mir schon ernst und so kann ich ja mal überlegen, ob seine Weisung alltagstauglich ist. Wem vertraue ich also?

Die Ärztin meines Vertrauens ist eine Ärztin, der ich fachliche und menschliche Kompetenz zuschreibe.

Der Metzger meines Vertrauens verkauft mir tote Tiere, von denen er mir versichert, dass sie artgerecht gehalten und geschlachtet wurden.

Der Journalist meines Vertrauens schaut sich einen Sachverhalt mit viel Hintergrundwissen, in seiner ganzen Komplexität, möglichst ohne Voreingenommenheit an und berichtet dann sachlich darüber.

Der Politiker meines Vertrauens vertritt die Werte, die mir wichtig sind und kämpft für diese Werte mehr als darum, Macht und Ansehen zu erhalten.

Die Freundin meines Vertrauens erträgt mich auch bei schlechter Laune und verrät meine Geheimnisse nicht.

Ich vertraue einem Menschen auf dem Gebiet, auf dem sie oder er kompetent ist: Ob meine Ärztin die Migrationspolitik Angela Merkels befürwortet oder kritisch betrachtet, ist erstmal unerheblich – schließlich ist sie keine Politikerin. Ob mein Metzger die BILD-Zeitung oder die FAZ liest, ist mir egal – schließlich ist er kein Journalist. Ob mein Lieblingsjournalist seine Wehwehchen mit Paracetamol oder mit Globuli lindert, spielt für mich keine Rolle – schließlich ist er nicht mein Arzt. Ob der Politiker, den ich wähle, geringschätzig den Kopf schütteln würde, wenn er mich abends im Schlafanzug den Hund Gassi führen sähe, ist nebensächlich – schließlich ist er nicht meine Freundin. Ob meine Freundin vegan lebt oder bei ALDI Tiefkühlschnitzel kauft, interessiert mich nicht wirklich – schließlich ist sie nicht mein Metzger.

Was würde es für mich bedeuten, wenn ich es mit dem Vertrauen so handhaben würde, wie der Herr Pastor dies vorschlägt?

Zunächst einmal wäre ich insgesamt ein ziemlich misstrauischer Mensch. Mein Vertrauen dürfte ich unter Vorbehalt nur den Menschen schenken, die Gott kennen und Jesus als Herrn vertrauen. Hier gibt es nun ein wenig Spielraum, wie eng oder weit dieser Kreis ist: Sind es nur die 2 % Evangelikalen der deutschen Bevölkerung oder gehören die gewissenhaften unter den evangelischen und katholischen Glaubensgeschwistern auch noch dazu? Mit viel Gnade wäre es vielleicht möglich den Kreis auf ca. 10 % auszuweiten. Mit viel Konsequenz müsste ich die 2 % wohl eher nochmal halbieren. Lebte ich in den USA hätte ich einen höheren Prozentsatz, aber ich will – und aufgrund der Corona Krise, kann – ja nicht immer nach Kalifornien fliegen, um mich röntgen zu lassen oder mir ein Steak zu kaufen.

Und jetzt muss ich mir unter dieser kleinen Prozentzahl von Jesusnachfolger_innen noch Leute suchen, die auf einem speziellen Gebiet Kompetenzen haben.

So kann es dann schon mal passieren, dass ich einem selbsternannten Pseudo-Wissenschaftler und Wutbürger den Vortritt lasse, und ihm seine Verschwörungstheorien abkaufe. Denn im Gegensatz zu dem renommierten Forscher an der Uni-Klinik hat der Quacksalber schließlich den Herrn Jesus auf seinem Thron sitzen. Wie viele Jahre er studiert hat, wie viele Stunden er im Labor verbracht hat und ob er überhaupt die Grundkenntnisse der Naturwissenschaft beherrscht, ist da erstmal unerheblich.

Ein Blick auf unsere Gesellschaft zeigt also, dass sich tatsächlich ein gewisser Anteil der evangelikalen Gottesdienstbesucher:innen die mahnenden Worte des Herrn Pastor zu Herzen nimmt.

Und wenn die Pseudo-Wissenschaftler:innen, Quacksalber:innen und alle anderen, die in Gottes Namen Unerhörtes von sich geben, den Karren komplett an die Wand fahren und sich für Leid, Hass, Tod und Unmenschlichkeit zu verantworten haben… dann kann man ihr oder sein Gewissen ja damit trösten, dass am Ende eben doch nur auf Gott allein Verlass ist.

So einfach kann das Leben sein!

Quellenangabe

https://www.ekd.de/statistik-kirchenmitglieder-17279.htm

Von Melanie

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