Contentwarnung: In diesem Text wird Purity Culture thematisiert.
Jungfräulichkeit ist so ein großes Thema und ich verstehe es ehrlich gesagt nicht. Ich bin in einem restriktiven, religiösen Umfeld aufgewachsen. Mir wurde beigebracht, dass Jungfräulichkeit einen hohen Wert hat. Würde ich meine Jungfräulichkeit unweise verlieren, so würde ich einen hohen Wertverlust erleiden. Was ein Bullshit. Ich war erst über 25 Jahre alt, als ich beschloss, unverheiratet penetrativen Penis-Vagina-Sex zu haben. Und ich drücke das so aus, weil: was ist schon Jungfräulichkeit?
Ich saß in vielen freikirchlichen Predigten und Workshops, in denen jungen Menschen, Teenager:innen und jungen Erwachsenen in der Blüte ihrer Identitätsfindung und Geschlechtsreife eingeschärft wurde: „Ihr müsst erst verheiratet sein, bevor ihr Sex habt!“ „Masturbation ist nicht gut für euch!“ „Euren Körper reizvoll darstellen? Das geht nur eurem Ehepartner oder eurer Ehepartnerin gegenüber!“ Selbst Zungenküsse wurden als schlecht und erst in eine Ehe gehörend bezeichnet. Das ist einfach nur absurd und ungesund. Am meisten regt mich dabei auf, dass weiterhin solche verletzenden, kontrollierenden und krankmachenden Aussagen getroffen werden. Junge Ohren hören das. Junge Herzen hören das. Junge Gemüter verlieren ihren Selbstwert, wenn sie doch schon weiter gegangen sind als empfohlen und „fromm“ sei. Junge Seelen denken sich in die Hölle, weil sie nicht mehr jungfräulich sind und G*tt sie „nur“ zurücknimmt, wenn sie ihre Sünde bekennen, bereuen und sie nicht mehr wieder tun. Welch ein grausames und despotisches Bild von G*tt gezeichnet wird. G*tt: (männlicher) Wächter der Jungfräulichkeit. Schrecklich, wirklich. Es ist furchtbar, was manche Menschen anderen antun. Welche psychische Gewalt in meiner freikirchlichen Erfahrung herrschte und in denen anderer Menschen immer noch herrscht.
Ich komme nun zu einigen Fallbeispielen. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich war vielleicht 18 oder 19 Jahre alt und auf einem Jugendkongress meiner Freikirche. Dieser war vom konservativen Spektrum veranstaltet, der teilweise auch Raum gab für fundamentalistische Theologien. Auf diesem Kongress gab es einen Workshop. „Selbstbefriedigung und die körperliche Lust überwinden. Wie man durch Christi Gerechtigkeit erlöst wird“ oder so ähnlich war der Titel. Der Workshop wurde von einem jungen Medizinstudenten gehalten. Er stammte aus einer traditionsreichen, frommen Familie und er war abgekommen vom frommen Weg. Denn er hatte mit einer Freundin, die nicht mal seine feste Freundin war, Petting gehabt. Und er hatte gerne und regelmäßig Pornos geschaut. Und er masturbierte. Oh mein G*TT! „Also das hätte ich von ihm nicht gedacht“, sagte mir hinterher eine „Glaubensschwester“ im Alter meiner Mutter. „Er kommt ja aus einer so frommen Familie. Hm…“
In diesem Workshop jedenfalls saßen viele junge Menschen. Es war die bestbesuchteste Veranstaltung aller Kongresse vorher und hinterher. Und ich erinnere mich, wie ich an der Seite saß mit großen Ohren und großen Augen und beobachtete. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt noch Jungfrau, hatte nie einen Zungenkuss gehabt, Pornos hatte ich schon mit 14 Jahren abgeschworen und masturbieren… ja das war eine meiner Schwächen. Aber das kam vielleicht einmal im Monat vor. Und wenn, dann auch immer mit starken Unterleibsschmerzen und einem höllisch schlechten Gewissen danach. Also saß ich an der Seite, ich hatte den Workshop schon mal besucht, fand ihn aber so faszinierend, dass ich ihn noch einmal besuchen wollte. Diesmal beobachtete ich ein Pärchen. Beide sehr hübsch, vielleicht zwei Jahre älter als ich. Anfangs saßen sie noch händchenhaltend nebeneinander. Der junge Medizinstudent begann seinen Monolog: Er war so weit weg von G*tt gewesen. Er hatte sich mit einer Frau eingelassen. Sie hatten sich nackt gesehen, im Intimbereich berührt. Das war Sünde. G*tt sei Dank hatte er nicht mit ihr geschlafen. Doch es war echt schwer. Wie konnte er nur so einen falschen Weg einschlagen? Und während er erzählte, beobachtete ich, wie das Pärchen, die Händchen nicht mehr hielt. Ihre Gesichter wirkten angespannt. Das Mädchen verschränkte ihre Arme. Der Junge hielt vorgebeugt sein Gesicht in seinen Händen. Sie waren sichtlich peinlich berührt. Die Scham war ihnen ins Gesicht geschrieben. Und ich saß an der Seite, dankte G*tt, dass sie diese Worte hören konnten und bat darum, dass sie sich bekehren mögen.
Ich würde mir selbst gerne in diesem Augenblick eine Backpfeife geben, mich anmotzen und sagen: „Was erlaubst du dir da? Wie doof bist du eigentlich? Merkst du nicht, dass das alles total ungesund ist? G*tt hat uns als Menschen mit Körpern geschaffen, selbstverständlich haben wir Lust. Selbstverständlich dürfen wir dieser auch unverheiratet nachgehen, wenn beide es wollen und es sich gut anfühlt. Steh auf, verlasse diesen Ort, verlasse diese Theologie und wache auf. Probiere das Leben aus! Es ist so wertvoll. Genieße es.“ Leider dauerte es noch ca. 8 Jahre bis ich das tat und ich bereue rückblickend jedes nicht ausprobierte Jahr. Ich stünde in meinem Leben heute wahrscheinlich ganz woanders.
anonym
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