Contentwarnung: In diesem Text wird Purity Culture thematisiert und sexuelle Praktiken beschrieben.
Dies ist der zweite Teil von „Like a virgin“.
Die Jahre in einer freikirchlichen Sozialisation mit restriktiver Sexualethik waren rückblickend so psychisch gewaltsam für mich, dass sich das auch in meinem Körper widerspiegelte. Ich hatte jedes Mal nach dem Masturbieren am Duschhahn starke Unterleibsschmerzen. Mich überkam ein sehr schlechtes Gewissen. Ich bat G*tt direkt um Vergebung. Und heute verstehe ich nicht: Wie konnten Menschen, Freund:innen der Familie, mein Exfreund, meine älteren Schwestern das nicht sehen? Wie konnte es sein, dass sie das einfach schweigsam mit trugen? Sie kannten die Predigten, die mir einflößten, mein Seelenheil stünde auf dem Spiel, würde ich masturbieren. Sie kannten die Meinungen meiner Eltern, die mir bis Mitte 20 verboten, meinen Freund bei uns übernachten zu lassen und auch ich durfte nicht über Nacht bei ihm schlafen. Fuhr ich in den Urlaub mit ihm, drängte meine Tante auf mich ein, ich möge doch ja nicht mit ihm schlafen. Auf gar keinen Fall! Ich würde meine Jungfräulichkeit verlieren und damit meinen Wert.
Mir wird beim Schreiben dieser Zeilen echt schwindelig vor unterdrückter Wut. Es hatte aber auch andere physische Auswirkungen: Ich litt jahrelang unter sehr starken Menstruationsschmerzen. Keine Schmerztablette half. Ich nahm heiße Bäder fast bis zur Ohnmacht. Ich lag auf dem Badezimmerboden weinend, erbrechend, mir wünschend, ich wäre als Mann geboren.
Ich zog nach meiner ersten Trennung aus meinem Elternhaus aus. Halleluja, war das eine Befreiung! Ich bereue es, das nicht bereits früher gemacht zu haben. Heute empfehle ich allen, die in einem restriktiven Haushalt leben: „Zieht so schnell von zuhause aus, wie ihr nur könnt!“ Das Geld und die Struggles sind es Wert. Denn mit dem Auszug begann für mich eine Phase der Entdeckung. Es dauerte noch ein Jahr, bis ich meinen ersten erigierten Penis in der Hand hielt. Und das war echt schön und ist es seitdem auch immer wieder. Es dauerte noch ein dreiviertel Jahr bis ich mein erstes Mal hatte. Ich weinte. Ich weinte richtig lange. Ich war recht schnell gekommen, weil das ein wirklich schönes Gefühl war. Aber ich weinte auch, weil so viel Last von meinen Schultern abfiel. Ich hatte so viel über diesen Moment der „Entjungferung“ gehört und es war überhaupt nicht so wie angekündigt. Es war schön und gut und es war einfach natürlich. Das Natürlichste der Welt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass auf einmal alles anders war oder werden würde. Was sich jedoch verändert hat, ist, dass jetzt vieles in meinem Leben viel mehr im Gleichgewicht ist. Und meine Beziehungen zu (Sexual-)Partner:innen sind einerseits emotional tiefer und bereichernder und andererseits funktionieren sie unabhängiger und befreiter. Und wenn ihr es doch wagen wollt oder schon längst dabei seid: Bleibt immer gut geschützt, wenn ihr keine Krankheiten oder Kinder haben möchtet.
Im Laufe dieser zwei Jahre meiner sexuellen Revolution merkte ich auch, dass meine Menstruationsschmerzen mit meiner Psyche zusammenhingen. Meine körperliche Anspannung im Unterleib hing zusammen mit meiner Spannung zwischen Körper und Geist: Einerseits hatte ich Lust, ist ja auch klar, wenn man in die Pubertät eintritt und Sexualhormone produziert. Andererseits waren diese Gefühle ganz klar unchristlich, unfromm, ja, Versuchungen des Satans. Jedenfalls hatte ich mich in dieser Zeit ausgiebig mit Sex und Sexualität auseinandergesetzt. Ich hatte Serien und Dokumentationen geschaut. Ich hatte Bücher gelesen, Podcasts gehört. Ich hatte mich mit Menschen unterhalten, mit anderen herumgeknutscht und gefummelt. Ich war eine Beziehung eingegangen, in der ich einige tolle Sexerfahrungen machen durfte. Ich war dann wieder Single und sexuell befreiter als viele andere, die schon seit vielen Jahren Sex hatten. Ich bin fähig über alles zu sprechen, alles zu fragen, vieles zuzulassen und selbst an anderen auszuprobieren. Ich bin endlich frei. Und das dankt mir mein Uterus bis heute. Wenn ich also regelmäßig Sex habe, masturbiere, auf meine sexuelle Lust und auch Unlust höre, dann verkrampft sich mein Unterleib nicht mehr. Ich habe keine Menstruationsschmerzen mehr. Der K(r)ampf hat sich gelöst. Ich bin keine Jungfrau mehr – nur noch als Sternzeichen.
anonym
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