Dekonstruktion – aber richtig?

Seit ich aus meinem fundamentalen Umfeld raus bin, befinde ich mich ungewollt in einer Art Wettstreit mit anderen Aussteigenden, die ich kennengelernt habe.

Invalidiere meine eigenen Erfahrungen, weil „es ja keine Beweise für Aussage xy gibt“, „du warst nur x Jahre da und das ja eigentlich auch nicht so richtig“, „du machst das bestimmt im Nachhinein alles schlimmer, als es war“ oder „als du Teil davon warst, kam dir das alles nicht so schlimm vor“. 

Wenn ich auf die Erfahrungen anderer Menschen schaue, die es in meiner Wahrnehmung schlimmer erwischt haben als ich selbst, frage ich mich regelmäßig, wo denn da mein Platz ist. Woher ich mir das Recht nehme, zu sagen „hey, ich bin auch ein Aussteiger. Ich dekonstruiere auch.“ Darf ich mich überhaupt auf eine Stufe mit den anderen stellen?

Darf ich meine Trauer über den Verlust meines alten Lebens auf eine Stufe mit ihrer Trauer stellen?

Vor einiger Zeit habe ich mit jemandem genau darüber gesprochen. Diese Person sagte etwas zu mir, was ich eigentlich schon tausendmal gehört hatte: „Nur weil jemand anderes etwas ‘schlimmeres’ erlebt hat, heißt das doch nicht, dass deine Erfahrungen nicht auch schlimm waren? Ganz ehrlich, ich bin regelmäßig schockiert von dem, was du von deinen Erfahrungen erzählst. Für mich ist daran gar nichts zu trivial.“

Ich glaube, ich vergesse manchmal, was meine Normalität war/ist und was die Normalität von Menschen ist, die nie in einer Freikirche waren. Wie sehr man gegenüber der Menschenfeindlichkeit abstumpft, wenn man sich schon sein Leben lang mit evangelikalen Glaubensbildern auseinandersetzt.

Dekonstruktion ist etwas 100% individuelles. Es gibt nicht den einen Weg und es gibt auch nicht die eine Erfahrung, die zur Dekonstruktion berechtigt. Man muss nicht das ganze Leben lang (oder eine gewisse Mindestanzahl an Jahren) in einer bestimmten Freikirche gewesen sein. Man muss nicht aktiv in einer Gemeinde mitgewirkt haben. Man muss nicht durch den Austritt aus der Freikirche das gesamte soziale Umfeld verloren haben. 

Es ist schlimm, wenn man das erlebt hat. Wenn das ganze Umfeld, das ganze Leben zusammengebrochen ist. Es ist aber auch schlimm, wenn man „nur“ ein paar Freunde verloren hat. „Nur“ die Gemeinde wechseln musste. Die Freikirchen-Zeit langsam aufgehört hat und nicht mit einem großen Knall. „Nur“….

Du darfst trauern. Du darfst Zeit brauchen und dich erstmal zurechtfinden müssen. Deine Erfahrungen und Erinnerungen sind nicht weniger schlimm, nur weil du daran gewöhnt bist, dich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie auszuhalten.

Joni

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