Ich werde 1979 in Unterfranken geboren. Römisch-katholisch getauft, da meine Eltern damals noch in der Kirche sind. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Italiener. Er ist schon immer streng religiös bzw. nimmt die römisch-katholischen Dogmen sehr ernst.
Als ich elf Jahre alt bin, kommt mein Vater durch seinen Bruder in eine fundamental-christliche italienische Gemeinde, ansässig in Hessen. Mein Vater erlebt seine Bekehrung in außergewöhnlicher Form. Er hat, wie er erzählte, Jesus im Licht gesehen, sich als Mensch sterben und als Baby auferstehen sehen. So krass wie seine Bekehrung, laut ihm, abgelaufen ist, so krass ist ab diesem Zeitpunkt sein Leben innerhalb der Kirche. Ich wurde gezwungen, zu jedem Treffen und Gottesdienst mitzugehen. Nach zwei Jahren kam die Scheidung meiner Eltern, da meine Mutter all die extremen Äußerungen und Handlungen meines Vaters nicht mehr erträgt.
Bevor mein Vater vorerst nach Italien zurückgeht, bringt er mich, der Sprache wegen, in einer deutschen Freikirche unter, damit ich, wie er sagt, im Glauben bleiben und mich bekehren kann.
Tägliche Telefonate indoktrinieren mich, mich zu bekehren, da ich sonst verloren wäre. Die Wiederkunft Jesu, Himmel, Hölle. Das macht mir unglaublich Angst, sodass ich mich mit 14 Jahren bekehren und taufen lasse.
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich schon lange (seit meiner frühesten Kindheit), dass ich schwul bin.
Ich gerate mit den Lehren der Gemeinde in innere Konflikte, ringe mit mir, meiner Sexualität, meinem Glauben, meinem Gottesbild.
Ich redete mit niemandem darüber, außer mit meinem Vater, dem ich meine ganze Problematik als „Glaubenskampf“ verpackt präsentiere. Er kommt daraufhin aus Italien zurück, um mir beizustehen. Wir gehen gemeinsam in diverse Gemeinden, ich ziehe mit 18 Jahren bei meiner Mutter aus und ziehe zu meinem Vater. Mein Vater äußert immer wieder, dass meine Mutter eine Ungläubige ist, und ich deshalb den Kontakt zu ihr abbrechen soll. Der Kontakt zu meiner Mutter wird spätestens nach dem Auszug deutlich schlechter.
Mein Kampf mit meiner Homosexualität und meinem Glauben erreicht mit zwanzig seinen Höhepunkt. Ich habe Suizidgedanken und depressive Episoden. Ich vertraue mich meinem Vater an.
Er ist der Meinung, dass ich „geheilt“ werden kann. Meine Odyssee von Seelsorger zu Seelsorger und Pastoren nimmt ihren Lauf. Ich erlebe mehrere Heilungsversuche, Teufelsaustreibungen, faste, bete unablässig, kasteie mich selbst bis aufs Äußerste nur um endlich diese homosexuellen Gefühle loszuwerden.
Die Odyssee gipfelt in dem kollektiven Kanon, dass ich doch eine Frau heiraten soll, damit „ich hetero werde“. Ich folge all dem völlig apathisch, bin indoktriniert, verwirrt, glaube, glaube nicht, kann mich keinen Moment widersetzen. Die Menschen der Gemeinde und mein Vater suchen nach einer Frau für mich. Manche der Gemeindemitglieder wissen um meine „Problematik“, die meisten jedoch nicht.
Mit 23 Jahren werde ich mit einer Frau aus unseren Kreisen verkuppelt. Wir haben uns vor unserer Hochzeit nur wenige Male wirklich gesehen, von Kennenlernen kann man nicht wirklich sprechen. Der Weg zum Standesamt und die Hochzeit traumatisierten mich regelrecht. Sehe mich von außen, weiß, dass ich gerade das tue, was ich absolut nicht möchte, es fühlt sich einfach nur falsch an. Ich weine viel, kann mich nicht widersetzen und lass alles über mich ergehen.
Schon nach wenigen Monaten Ehe beginnt meine damalige Frau Fragen zu stellen. Ob es sein könne, dass ich „früher mit Homosexualität zu kämpfen hatte“? Ich leugne immer wieder. Sie fragt in den ersten Ehejahren immer wieder mal nach, ich leugne, irgendwann glaubt sie mir, fragt nicht mehr nach. Wir bekommen zwei Kinder, kaufen Häuser, ziehen mehrmals um, leben unseren Alltag. Ich spüre, dass ich falsch lebe, bin meiner damaligen Frau aber immer treu. Lediglich in den den letzten drei Ehejahren vor der Trennung tauche ich im Internet in schwule Chats und Foren ab, um meine brennende Sehnsucht nach Männern zu stillen. Als meine Tochter zwölf Jahre alt ist, sagt sie eines Tages zu mir: „Papa, du könntest auch irgendwie gut schwul sein, weißt du das!“ Ich war total baff und merkte, dass ich endlich ehrlich werden muss. Für mich, für alle anderen. Ich stoße erstaunlicherweise kurze Zeit darauf auf einen Bericht eines Mitglieds von „Zwischenraum e.V.“ und in mir wird eine vage Hoffnung groß, dass mein Schwulsein und mein Glaube doch irgendwie miteinander einhergehen können. Und das nach meinem halben Leben, mit 39 Jahren. In mir werden krasse Gefühle wach. Ich vertraue mich “Zwischenraum” an und erkenne, dass mich Gott so gewollt hat und dass so vieles in meinem Leben bzw. Glaubensleben schiefgelaufen ist. Ich oute mich bei meiner damaligen Ehefrau, zwei Monate später bei meinen Kindern. Im ersten Moment sind alle nicht überrascht und sagen, „das dachten wir uns schon immer“. Viele Dinge nehmen nur ihren Lauf. Nach meinem Entschluss, mich scheiden zu lassen und aus unserem Haus auszuziehen, werde ich aus unserer damaligen Brüdergemeinde ausgeschlossen und fortan nicht mehr gegrüßt, wenn wir uns in der Stadt begegnen. Familienmitglieder, Gemeindemitglieder und mein Vater brechen den Kontakt zu mir ab. Lediglich mit meiner Exfrau und meinen Kindern bin ich in Kontakt. Wobei der Kontakt mehr schlecht als recht ist, da alle drei weiterhin in die Gemeinde gehen, mich als verlorenen Sünder, als verirrtes Schaf, sehen. Mittlerweile ist der Kontakt besser. Ich gehe weiterhin meinen Weg als offen homosexuell lebender Mann. Ich beginne all die Missstände in meinem früheren Leben zu erkennen, fange an meinen bisherigen Glauben komplett zu dekonstruieren und bezeichne mich heute, nach knapp fünf Jahren, als Agnostiker. Ich bin irgendwie noch spirituell, ein bisschen, aber war seitdem nie wieder in irgendeiner Kirchenform, lese keine Bibel mehr, möchte mit „all dem“ nichts mehr zu tun haben.
Vor zweieinhalb Jahren durfte ich meinen heutigen Ehemann kennenlernen. Er ist komplett kirchenfremd, war, als er meine Lebensgeschichte erfuhr, völlig schockiert, dass es das gibt und auch heute, mitten in unserer Gesellschaft, vorkommt, hinter verschlossenen Türen sozusagen. Wir sind mittlerweile verheiratet und die Hochzeit hat sich diesmal einfach nur richtig angefühlt. Ich habe angefangen Menschen kennenzulernen, die mich lieben, wie ich bin und nicht, wie ich angeblich sein soll. Endlich lebe ich mein Leben, wie ich es mir immer gewünscht und erträumt habe. Oft bin ich bitter darüber, was ich in meinem Leben erleben musste, aber vielleicht wäre ich dann heute auch nicht an diesem Punkt, an dem ich einfach nur glücklich bin.
Manuel
Hier geht es zum Beitrag auf Instagram.