Als Kind waren die Weihnachtstage meine liebsten Feiertage

Meine Familie hat all die typischen Bräuche zelebriert: die Wohnung festlich dekorieren, Adventskalender befüllen, Lichterketten an den Fenstern anbringen, Plätzchen backen, am Morgen des 24.12. den Weihnachtsbaum schmücken und abends dort Geschenke vorfinden.


Ich weiß aber auch, dass es viele christlich-evangelikale Familien gibt, die das Weihnachtsfest ganz anders gestalten, und bewusst Abstand zu diesen weltlichen Traditionen nehmen.

Je älter ich wurde, desto wichtiger wurde mir auch der Inhalt des Festes: die Weihnachtsgeschichte – also bekamen natürlich auch die Weihnachtsgottesdienste eine besondere Rolle an den Feiertagen.


Das Jahr 2016 ist das Jahr, in dem meine Dekonstruktion vom christlichen Glauben ihren Anfang genommen hat. Es war ausgerechnet der Weihnachtsgottesdienst am Heiligabend, dieses unglaublich festliche Event voller Lichter und strahlender Kinderaugen, an dem ich in den Reihen saß wie all die Jahre zuvor – aber an diesem Abend konnte ich plötzlich nicht mehr glauben, dass Jesus wirklich von einer Jungfrau geboren worden sein soll, und als Gottes Sohn in einer Krippe in einem Stall in Bethlehem lag.


Der Glanz von Weihnachten hat sich für mich schon ein paar Jahre vorher verändert, als sich meine Eltern getrennt haben. Aber seit diesem Weihnachtsgottesdienst 2016 ist es nochmal schwieriger geworden:
Es gibt jetzt Themen, über die am Tisch nicht gesprochen werden sollte, weil sie die Stimmung leicht kippen können.
Dass ich ganz aktiv, ganz bewusst, ganz entschieden nicht mehr glaube, gehört definitiv dazu.


Dass ich die vielen logischen Lücken in der Bibel, in ihren Geschichten, und auch an der Weihnachtserzählung selbst nicht mehr einfach hinnehmen kann. Diskussionen führen nur zu enttäuschten Gesichtern und erhitzten Gemütern. Aber trotzdem werden immer wieder Andeutungen und Hinweise gemacht, obwohl mein Bruder und ich beide nicht mehr glauben: „Gott war heute so präsent in diesem Gottesdienst“.


Wie reagieren wir also? Wir ignorieren die Andeutungen und gehen meist nicht weiter darauf ein. Versuchen das Thema zu wechseln oder beenden sogar die Konversation. Das bedeutet aber auch, dass ich oft das Gefühl habe, an Weihnachten, im Kreise meiner Familie, nicht wirklich ich selbst sein zu können. Mich beherrschen zu müssen, was ich sage, wie ich es sage, wann ich es sage. Und diese Tatsache ist es, die die festlichen Tage für mich nicht mehr nur erholsam sein lassen. Sondern oft auch anstrengend und kräftezehrend.


Es hat einige Jahre gedauert, bis ich diese Tatsache akzeptieren konnte. Nicht mehr durch die Berichte von harmonischen Familienfesten traurig wurde, weil es sich früher für mich auch so angefühlt hat, und heute so anders. Ich versuche, an die Weihnachtsfeiertage möglichst ohne Erwartungshaltung heranzugehen, und werde dann meist von den schönen Momenten, die es definitiv auch gibt, überrascht. Ich vergleiche meine eigene Familie nicht mehr mit anderen Familien, nicht mehr mit Idealbildern und Wünschen, und schon gar nicht mit den geschönten Eindrücken in der Social-Media-Welt. Es ist wie es ist – anders als früher, und komplizierter, aber das ist okay. Ich weiß heute, wie ich mit diesen Gefühlen und Gedanken umgehen kann.


Ich möchte mit diesem Text auch darauf aufmerksam machen, dass es viele Menschen gibt, für die die wohl prominentesten Feiertage im christlichen Kalender alles andere als festlich sind. Manche Menschen werden schmerzlich an ihre Einsamkeit erinnert, wenn es keine Familie gibt, zu der man heimkommen kann. In vielen Familien herrschen beständige Machtkämpfe, Gewalt und Bedrohung – diese Dynamiken ändern sich nicht plötzlich, weil die Feiertage anstehen. Es gibt Familien, die sich nach Trennung oder Scheidung neu organisieren müssen; was sich besonders an Familien-Feiertagen als Herausforderung zeigen kann. Es gibt Familien, in die sich neue Partner:innen integriert haben, und nun alle Beteiligten ihre Rollen noch finden müssen. Es gibt Menschen, die haben an Weihnachten kein Zuhause, nicht einmal ein Dach über dem Kopf, nicht einmal etwas zu essen – während die Medien, die Werbetafeln, die Kaufhäuser beständig das Bild der festlichen Familienzusammenkunft zelebrieren.


Wenn sich Weihnachten nicht mehr wie früher anfühlt, oder wenn es sich noch nie nach einem harmonischen Fest angefühlt hat, wenn die Dekonstruktion des Glaubens plötzlich neue, bislang unbekannte Hürden aufstellt, oder wenn Weihnachten aus vielen anderen Gründen mit Schmerz und Trauer verbunden ist, dann möchte ich mit diesem Text daran erinnern, dass es vielen Menschen so geht.


Wir sind nicht allein mit dieser Erfahrung.


Vielleicht kann dieser Gedanke der einen oder dem anderen eine kleine Unterstützung an den Feiertagen sein.

Sandra

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