Darum nahm ich meinen Mut zusammen und bat die Frauen, etwas zu unternehmen

Contentwarnung: Im folgenden Artikel wird sexualisierte Gewalt thematisiert.

Mein Wunsch war es, Leiterin in einer Freikirche zu werden. Darum ging ich auf eine Bibelschule. Nachdem ich ein halbes Jahr auf der Schule war, machten wir einen Schulausflug zu einer Kirche. Dort stellte ich mich nach der Predigt in der Reihe an, um Gebet zu empfangen. Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Hintern. Ich drehte mich um und war überrascht, den Bibelschulleiter mit seiner Frau zu sehen. Beide unterhielten sich mit einer Mitschülerin. Ich dachte, dass ich mir die Berührung eingebildet hätte und wich zur Seite. Nach ein paar Minuten spürte ich wieder die Hand des Bibelschulleiters an meinem Hintern. Beim dritten Mal ging ich aus der Schlange und stellte mich hinten an. Ich dachte ich sei verrückt. Als ich nach Hause kam, weinte ich den ganzen Abend, ohne zu erkennen, was der Auslöser war.

Einige Tage später realisierte ich ein wenig mehr, was passiert war, und schämte mich sehr. Ich kleidete mich äußerst dezent und ging dem Bibelschulleiter aus dem Weg. Als ich mich an einem Nachmittag, mitten zwischen den anderen Bibelschüler:innen, über den Prospekttisch beugte, spürte ich hinter mir eine Person. Ich wurde mit den Lenden eines Mannes gegen den Tisch gedrückt. Ich drehte mich um und entdeckte den Bibelschulleiter. Ich war mir sicher, dass ich mir das alles eingebildet und durch ein problematisches Verhältnis zu meiner Sexualität die Situation „angezogen“ hätte.

Kurz vor Abschluss des ersten Schuljahres saß ich mit fünf Frauen zusammen. Ich fragte sie vorsichtig, ob sie schon mal erlebt hätten, dass ihnen in einer Kirche eine Person zu nahe gekommen sei. Nach einem kurzen Moment der Stille schaute mich eine der Frauen an und fragte mich, ob mir so etwas gar in der Bibelschule passiert wäre. Ich war überrascht und stimmte zu. Sie fing an zu erzählen, dass ihre beste Freundin vom Schulleiter belästigt werde und sie ihre Freundin beschützen müsse. Eine weitere Frau aus der Gruppe erzählte, seit sie einen Freund habe, hätte der Bibelschulleiter das nicht mehr gemacht. Auch die dritte Frau erzählte von verschiedenen Erlebnissen: Der Bibelschulleiter legte bei einem Gruppenfoto seine Hand auf ihren Hintern. Sie dachte, er verwechsle sie mit seiner Ehefrau. Auf dem Foto war jedoch zu erkennen, dass die Ehefrau auf der anderen Seite stand. Ich war überrascht von so vielen Schicksalen. Wir hatten eine fröhliche und ausgelassene Zeit auf der Bibelschule und ich hätte nicht erwartet, dass es anderen auch so gehen könnte. Mir wurde klar, dass mehr Frauen betroffen waren!

Darum nahm ich meinen Mut zusammen und bat die Frauen, etwas zu unternehmen. Die Frauen lehnten das ab. Sie wollten Gottes Führung für den Bibelschulleiter nicht im Weg stehen, denn er sei gesalbt von Gott. Und sie wüssten, dass Gott sie auf der Bibelschule haben wolle und einen Ausschluss wollten sie nicht in Kauf nehmen. Sie waren sich sicher, dass Gottes Plan so mit ihnen und der Bibelschule nicht weiter bestehen wird, wenn sie sich diesbezüglich äußern würden. Zudem waren sich alle sicher: Der Schulleiter täte das ja nicht absichtlich und könne daher nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Als ich sie fragte, wie es ihnen damit ginge, dass andere Frauen diese Bibelschule besuchen werden und ihnen das Gleiche oder Schlimmeres passieren könnte, meinten sie: Gott würde sich schon um diese Frauen kümmern. Ich entschied mich daraufhin, die Bibelschule zu verlassen. Ein Gespräch mit dem Bibelschulleiter, seiner Frau und weiteren Leitern:innen wurde durchgeführt, um mich zum Bleiben zu überzeugen. Ich äußerte mich nicht zu meinen wahren Gründen. Nach dem Gespräch hatte ich das Gefühl, eine Versagerin zu sein und es nicht geschafft zu haben, Gottes Plan zu folgen. Ich befand mich in einer Lebenskrise.

Ich erzählte nur wenigen Personen davon, denn auch ich hatte Angst, den Ruf der Bibelschule zu ruinieren und mich vor Gott schuldig zu machen. Ich habe mich bis heute nicht getraut, das Fehlverhalten des Schulleiters bei der Schule zu melden. Das Letzte, was ich in den Augen anderer sein will, ist die Versuchung, durch die ein Pastor und Bibelschulleiter gefallen ist.

Heute habe ich den Wunsch, in einer Freikirche zu arbeiten, nicht mehr, denn ich erahne, wie Machtmissbrauch aussehen und wie manipulativ die eigene Gemeinschaft sein kann. Bis heute ist keine der Frauen mit dem Fehlverhalten des Schulleiters an die Öffentlichkeit getreten. Er ist auch heute noch Schulleiter, Pastor und Referent.

anonym

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