Ausstieg aus dem evangeli­kalen Zug

Fast ein halbes Jahrhundert habe ich im evangeli­kalen Zug verbracht, aber ich habe im Nachhinein das Gefühl, ich bin genauso lange ausgestiegen.

Hineingeboren in eine streng religiöse Familie und Gemeinde, in der es viele Regeln gab (vor allem für Mädchen und Frauen). Endzeit und die böse Welt draußen, von der wir uns fern halten mussten, spielten eine sehr große Rolle. Ich hatte als Teenager schreckliche Angst, nicht bereit zu sein und zurück zu bleiben, wenn die Entrückung stattfindet. Eine Versammlung zu schwänzen oder wütend zu sein, konnte schon bedeuten, dass man für immer verloren gehen würde. Ich versuchte die Grenzen immer wieder etwas zu erweitern, aber die Angst vor der Hölle hielt mich im Zug. Eigentlich hätte die Wiederkunft Christi schon 1988 oder in den folgenden Jahren stattfinden sollen, weil Israel 40 Jahre alt wurde, aber irgendwie hatten die Kontroll­beauftragten etwas nicht richtig verstanden. Also konnte ich doch heiraten und Kinder bekommen, was ich schon mit 19 Jahren tat, weil Sex vor der Ehe streng verboten war.

Mein erster Ausstieg war dann der Besuch einer Bibelschule. Dies war für mich ein erster Schritt in die Freiheit, obwohl es auch dort strenge Regeln ­gab. Aber es war etwas freier und vor allem 3 Stunden entfernt vom Ort meiner Kindheit. Die Gemeinde, der wir uns an dem neuen Ort anschlossen, war auch viel freier. Frauen durften zwar nicht leiten, geschweige denn vor der Gemeinde predigen, aber unter Frauen schon – und sie durften Hosen in der Kirche tragen. Mein Mann und ich waren damals sehr engagiert in unterschiedlichen Diensten.

Dann kam der nächste Ausstieg. Wir waren als Eltern vielfach gescheitert und auch die Dienste in der Gemeinde hatten uns viel Kraft gekostet, da entdeckten wir die charismatischen Gaben und hatten die Hoffnung, dass wir jetzt den Durchbruch erleben würden, die ersehnte Erweckung. Es war aber eher eine Bruchlandung oder, um im Bild zu bleiben, ein Zugunglück. Wir stiegen in eine Gemeindeneugründung ein, aber nach nur kurzer Zeit ernüchtert wieder aus.

Von Menschen ent­täuscht, aber noch nicht ganz von Gott, versuchten wir eine weitere charismatische Gemeinde zu ­besuchen. Aber fast jedes Mal brauchten wir einige Zeit, um uns nach einem Besuch zu erholen. Es war irgendwie die gleiche Theologie nur in moderner Uniform und mit ­Tattoos. Machtmissbrauch, Grenz­überschreitung, und Homophobie begegneten uns überall, nur in anderem Gewand.

Ich fing an, immer mehr zu hinterfragen. Es fing alles damit an, dass ich einen Vortrag über eine Sicht auf die Endzeit hörte, die völlig anders war als das, was ich in meiner Kindheit mitbekommen hatte. Das brachte den Stein ins Rollen. Ich fing an mehr und mehr in Frage zu stellen. Heute ­kommt mir vieles so befremdlich vor, was ich früher geglaubt habe.

Ich bin ausgestiegen. Aus dem evangelikalen Zug auf jeden Fall. Ich hoffe zwar immer noch, dass es ein höheres Wesen gibt, das Interesse an den Menschen hat, aber ich weiß es nicht. Ob ich je wieder auf einen Zug aufspringen werde? Ich weiß es nicht und im Moment geht es mir gut damit, nicht mit­zufahren. Das Einzige, was manchmal ­schwierig ist, ist, dass alle Wegbegleiter im Zug geblieben sind. Aber ich halte die Augen offen, ob sich nicht doch mehr Leute finden, die wie ich ausgestiegen sind. Oder es finden sich Menschen, die lieber Zeit im Wald verbringen, als in engen Zugabteilen.

Kathi

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