Es folgen einige der Gedanken, die ich hatte, als ich nach einigen Jahren Abstand wieder mal eine der großen evangelikalen Hymnen – „Christ is enough“ von Hillsong – angehört habe. Ich werde einzelne Zeilen des Liedtextes aufgreifen und neu interpretieren.
„I have decided“
Vielleicht wurde uns auch einfach von Geburt an gesagt, dass derselbe Gott, der retten kann, auch die Macht hat, Menschen auf ewig zu verdammen, sollte man sich gegen ihn entscheiden. Vielleicht weiß man nach einem Aufwachsen in diesem System einfach nur gut genug, dass auf die Ablehnung dieses Glaubens hin die größtmögliche Krise folgen würde, die sich nicht nur auf das Diesseits, sondern auch auf das Jenseits erstreckt: Verlust des Umfeldes, Konfrontation und Ausschluss von Familie und Freund:innenkreis, Skandal in der Freikirche… und eine Ewigkeit in der Hölle obendrauf.
Hatte man als Gemeindekind tatsächlich jemals die Wahl? Kann man DAS wirklich eine freie Entscheidung nennen?
„No turning back“
Zu welcher Welt, zu welchem Leben, soll man denn zurückkehren, wenn alles was man kennt, das Leben in dieser Glaubensgemeinschaft ist? Wenn man in das, was außerhalb ist, niemals eintauchen durfte, nicht einen Tag lang Teil davon war?
„The world behind me“
Welche Welt soll man denn hinter sich lassen, wenn man in diese Kreise hineingeboren wurde und „die Welt“ – diesen als so böse und unglücklich dargestellten Ort, mit all den verlorenen Menschen, die außerhalb der „Beziehung mit Jesus“ sowieso nie wahres Glück finden würden und auf dem Weg in die Verdammnis seien – nur aus Predigten kennt?
„Everything I need is in you“
„Christ is enough for me”
In Christus ist nicht alles, was ich als Mensch brauche. Ich brauche ein Dach über dem Kopf. Ich brauche Nahrung, sauberes Wasser, Sicherheit, menschliche Nähe, Geborgenheit, Freundschaften, Intimität (danke an die Purity Culture, die auch das bis zum Tag der Hochzeit zur Sünde macht).
Ich brauche SO viel mehr, als es ein Gott oder ein Glaube jemals stillen könnte. Warum darf Glaube nicht einfach eine Ergänzung für das Leben sein, Gott eine Kraftquelle für die Menschen, die das möchten? Warum muss er in diesen Kreisen „everything“ sein, warum muss er jeden Aspekt des Lebens einnehmen und sich über alles andere (und alle anderen!) erheben? Warum muss er die Menschen, die nicht glauben, zu „Verlorenen“ machen?
Noch etwas wird mir heute bewusst: Was es doch für eine Anmaßung von mir als unglaublich privilegierter Person Mitteleuropas war, so viele dieser Dinge als selbstverständlich zu nehmen und „Christ is enough for me“ zu singen, während andere Menschen nicht einmal das Notwendigste haben und täglich um ihr Leben bangen müssen.
Ich kann heute für mich nur mehr sagen, dass Christus nicht genug ist und es niemals war, nicht für mich und nicht für diese Welt.
„No turning back“ möchte ich heute singen, am liebsten würde ich es von den Dächern rufen, über diesen Glauben, der Liebe und Freiheit verspricht und stattdessen Angst und Dissonanz erzeugt, der mich so lange nicht nur für die Schönheit, sondern auch für das Leid dieser Erde vollkommen blind gemacht hat.
Der mich entfremdet hat von dieser Welt, die mein Zuhause ist.
Von Sarah (Instagram: @sarah_schreibt)
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