Wenn Gott nicht antwortet

Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, eigentlich vielmehr an den Moment, den ich jetzt als Beginn meiner Dekonstruktion definiere. Danach hat es zwar noch etwa ein Jahr voller Zweifel, Fragen und Ungewissheiten gedauert, bis ich eine „Glaubenspause“ begonnen habe. Diese Pause dauert bis heute an, aber das war der Anfang. Mittlerweile nenne ich es nicht mehr Pause, stattdessen bin ich sehr froh, meinen alten Glauben hinter mir gelassen zu haben – endgültig.

Auch wenn der Weg lang und hart war, wenn ich mich monatelang wie im freien Fall gefühlt habe, den festen Boden unter den Füßen verloren habe, kann ich doch jetzt aus tiefster Überzeugung sagen: „Das war es wert.“ Weil es mir jetzt so viel besser geht, als noch vor ein paar Jahren und weil ich damals gar nicht erkannt habe, wie gefangen und unfrei ich in diesem System war. In diesem Glauben, der immer mehr von mir abverlangt hat, so viel Vertrauen und so viel Willenskraft, bis ich einfach nicht mehr konnte. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich wieder verzweifelt im Bett sitzen, wenn ich daran denke, wie alles begonnen hat. Ich sehe mich, mit dem Rücken zur Wand, wörtlich wie auch im übertragenen Sinn. Ich habe die Arme um meine Knie geschlungen, bin zutiefst verunsichert, aufgewühlt und hoffnungslos. In mir dieses ständige Hin und Her, ich brauche dringend eine Antwort von Gott. Wie viel habe ich schon gebetet, in der Bibel gelesen, nach  Antworten gesucht! Für mich hängt von dieser Frage (gefühlt) meine gesamte Zukunft ab, es fühlt sich an wie Leben und Tod, so existenziell ist dieses Thema zu diesem Zeitpunkt für mich – auch wenn ich heute sage: „Quatsch, alles kann man irgendwie ändern, nichts ist für immer so festgelegt, es gibt meistens eine Ausweg.“

Aber damals war ich überzeugt, wenn ich einmal auf dem Weg bin, egal ob es Gottes richtiger Weg ist oder die falsche Abzweigung, dann komme ich da nicht mehr raus. Und mir war klar, ich muss Gott um Rat fragen. Nicht nur um Rat, nein, er muss diese Entscheidung für mich treffen, muss mir sagen, was ich tun soll. Ich wollte doch einfach nur “alles richtig” machen und Gottes Willen befolgen. Hieß es doch immer in meiner Gemeinde, dass ich ihn fragen soll. Vertrauen, dass er sich mir offenbart, mir meinen Weg zeigt – ich muss nur hinhören. „Gott, was willst du für mein Leben?“, frage ich ihn und mich damals in Dauerschleife. Also lausche ich angestrengt in die Stille, seit Wochen schon, doch an diesem Tag den ganzen Abend lang. Ich weine, ich schreie, ich flehe: „Sag doch was, gib doch ein Zeichen von dir, Gott!“ Ich rutsche vom Bett, sinke auf die Knie, doch da ist einfach nichts. Nur Dunkelheit. Ich bin immer noch alleine. Dabei würdest du mir doch zur Seite stehen, wurde mir immer gesagt. Ich habe immer noch Angst, dabei solltest du doch mein Ratgeber, mein bester Freund sein, immer für mich da. Ich liege immer noch am Boden, zutiefst verunsichert, überfordert, hilflos. Dabei solltest du doch mein Erlöser sein. Doch wo bleibt meine Rettung? Ich warte. Ich weine, schreie ins Dunkel, bis ich nicht mehr kann und erschöpft zusammensinke. Nichts, aber auch gar nichts hat sich verändert, seitdem ich vor endlosen Wochen das erste Mal um Führung auf meinem Weg gebeten hatte… In diesem Moment stirbt etwas in mir. Ich werde monatelang darum kämpfen, meinen Glauben, mein Vertrauen in Gott, das Feuer wieder zu entfachen. Aber es ist für immer erloschen. In diesem verzweifelten Moment auf dem Fußboden, als ich Gottes Liebe, Beistand oder Nähe am dringendsten gebraucht hätte, war da einfach nichts. Dunkelheit. Stille. Leere. Ich bin überzeugt, wenn es diesen Gott gäbe, in der Form, an die ich vor einigen Jahren noch aus vollem Herzen geglaubt habe, dann hätte er mich in diesem Moment nicht alleine gelassen. Wenn Gott der gute Vater wäre, tröstend wie eine Mutter, dann hätte ich eine Antwort bekommen, zumindest einen inneren Frieden, Erleichterung, auch nur irgendeine Regung. Stattdessen ging es mir einfach nur immer schlechter.

Damals habe ich noch nicht erkannt, dass mein Glaube an Gott, den ich für meinen Anker hielt, eigentlich Ketten waren, die mich gefesselt hielten. Mir keinen Halt gab, sondern mich gefangen nahm. Mein Warten auf Gottes Zeichen hat mir den Blick verschleiert auf einen Weg, der eigentlich direkt vor mir lag. Das ständige Hören auf Gottes Stimme hat mir alle Energie genommen, die ich gebraucht hätte, um einfach loszulaufen und auszuprobieren. Mein unermüdliches Bitten und Flehen, mein Verzweifeltes „Ich brauche dich, Gott, mehr als alles in der Welt!“ hat mir den Atem zum Leben geraubt. Der Schein meiner Hoffnung am dunklen Horizont, er war ein Irrlicht, hat mich nur tiefer in die einsame Schwärze und die kalte Nacht gelockt. Mein Glaube an einen befreienden Gott, er war für mich ein Gefängnis. Vergeblich.

anonym

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