Contentwarnung: In diesem Text werden die Themen körperliche und psychische Gewalt gegen Minderjährige, Hölle / Satan und Sekte behandelt.
Disclaimer: Auf Autorenwunsch ist dieser Text nicht bzw. nicht vollständig gegendert.
Ich bin in einer frommen Familie aufgewachsen, in der Religion die oberste Priorität hatte. Es wurde alles dem eigenen Verständnis von Religion untergeordnet, wobei Streit darüber, wie der Glaube denn nun genau „richtig” sei, an der Tagesordnung war.
Schon früh spürte ich, anders zu sein als die anderen, ich konnte mich mit den vorgegebenen Geschlechterrollen nicht abfinden und ich war in der Schule zu gut. Viele Eltern wären ja froh, wenn sie intelligente Kinder haben, meine hatten jedoch Angst, ich würde vor lauter „schlau sein” irgendwann den Glauben verlieren. Tatsächlich habe ich meinen Glauben auch durch wissenschaftliches Forschen verloren – es hat aber viele Jahre gedauert, bis ich an diesen Punkt kam.
Mir wurde ständig klargemacht, ich sei das schlimmste Kind überhaupt auf Erden, nichts wert, man müsse mich auch ständig bestrafen, weil das Gottes Wille sei. Wen Gott liebt, den züchtigt er. Allerdings wurde ich immer aus dem Zorn heraus verprügelt, es war nie absehbar, wann es zu Ende war, und manchmal hatte ich richtige Todesangst. Noch heute kann es passieren, dass ich mich nach einem Trigger in abwehrender Haltung zusammenkrümme – Flashbacks überrollen mich manchmal, obwohl die Gefahr schon lange vorbei ist.
Um überhaupt etwas richtig zu machen und wenigstens noch etwas Anerkennung zu bekommen, wurde ich selber auch richtig religiös. Ich las die Bibel mehrfach komplett durch, diskutierte Glaubensfragen mit dem Vater oder mit gestandenen Christen in der Kirche (ich kam mir manchmal vor wie der 12-jährige Jesus im Tempel, wenn ich schon als Grundschulkind mit den Erwachsenen diskutierte, während alle anderen Kinder im Kirchengarten spielen waren). In der Schule stand ich ganz klar auch für den Glauben ein, egal ob es sich um das Thema „Evolution” handelte oder um – meiner Meinung nach – falsche Ansichten im Religionsunterricht. Wenn jemand aus meinem früheren Leben erfahren würde, dass ich heute Atheist bin, würden diejenigen das wohl für einen Scherz halten, denn so 150%ige steigen ja wohl nicht aus?!
In meiner Klasse hatte ich zu keinem Zeitpunkt Kinder, die ebenso religiös waren. Trotzdem war ich mit ein paar von ihnen auch etwas befreundet. Insgesamt lebten wir als Familie aber ein recht isoliertes Leben, weil auch so viele Dinge nicht erlaubt waren. Wir durften nicht alle Bücher lesen (Harry Potter gab es damals noch nicht, aber natürlich gab es auch schon Bücher, die „richtige” Christen nicht lesen sollten), wir durften selten auf Klassenfahrt, nicht zu Partys oder in die Disco. Die Kleidung war altmodisch, der Musikgeschmack auch – selbst christliche Pop- oder Rockmusik war verboten. Außerdem wurden in der Familie Verschwörungsmythen gepflegt, von antisemitischen Theorien bis hin zu Mythen über die katholische Kirche und Illuminaten. In der Schule war man mit all diesen Dingen der große Außenseiter.
Über die Jahre radikalisierte sich mein Vater stark, die Kirche (wir besuchten eine erzkonservative Gemeinde) war nicht mehr gut genug, sie war bald ähnlich wie die katholische Kirche eine „Hure Babylon”. Er trat aus und suchte nach einer freistehenden Gemeinschaft. Die normalen evangelikalen Freikirchen kamen für ihn nicht infrage, da diese der „Evangelischen Allianz” angehörten – das war schon zu viel des Guten an „Zeitgeist” für ihn. Es musste etwas sein, das nicht als Verein organisiert war, das noch das wahre „Urchristentum” lebte. Aufgrund von Büchern und Kontakten landeten wir schließlich in einer sehr engen Gemeinschaft, die von vielen als Sekte oder zumindest mit „sektiererischen Zügen” behaftet bezeichnet wird.
Dort wurde es noch extremer. Ich wurde gezwungen, mich bei meinen Eltern zu entschuldigen für all mein angeblich aufsässiges Verhalten – ich hatte mich darüber beklagt, von meinen Eltern schlecht behandelt worden zu sein, aber wenn man als Kind Prügel bezogen hatte, war man ja selber schuld in den Augen der „Seelsorger” dieser Gemeinschaft. Fast jeden Tag hatte man einen Gottesdienst, einen Hauskreis oder eine Bibelstunde zu besuchen, bei diesen Veranstaltungen drehte sich alles um unsere „Sünden” und dass wir mit unseren Sünden in die Hölle kommen würden, wenn wir sie nicht alle bis ins kleinste Detail bekennen würden. Um die Gefährlichkeit der Hölle zu untermalen wurden wir dann noch Filmen von und mit Estus Pirkle ausgesetzt, einem amerikanischen Baptistenprediger, den Filmen „Burning Hell” und „If Footman Tire You, What Will Horses Do?”. Obwohl ich bereits im Teenageralter war, traumatisierten mich diese Filme weiter – ich mag mir bis heute nicht vorstellen, was die für noch Jüngere bedeutet haben, zumal wir alle keine Filme gewohnt waren, da die Familien keine Fernseher hatten. Es befinden sich einige sehr brutale Szenen in diesen Filmen.
Trotz der schlechten Erfahrungen blieb ich auch im Erwachsenenalter zunächst Christ und engagierte mich stark im evangelikalen Milieu, studierte eine Zeitlang sogar evangelikale Theologie. Erst durch die Möglichkeiten, die der spät angeschaffte Computer mit dem Internet bot, wurde mir ein Ausstieg möglich gemacht. Ich entdeckte Literatur und Webseiten von ehemaligen Evangelikalen („geburtsatheistische” Literatur hätte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelesen), ich begann Forschungen anzustellen, von der Religionsgeschichte bis hin zur Evolutionsbiologie. Ein naturwissenschaftliches Studium half hier auch entscheidend weiter. Hilfreich war auch, dass ich nicht mehr zu Gottesdiensten ging und auch meinen Wohnort verlagert hatte – weit weg von den ehemaligen „Glaubensgeschwistern”. Ich brauchte den Abstand, um mir ein neues Leben aufzubauen. Es war nicht leicht, allein ohne soziales Umfeld dazustehen, aber da ich psychische Probleme hatte (ich habe eine PTBS mit dissoziativen Störungen), fand ich professionelle Hilfe, die mir wiederum half, neue Kontakte zu knüpfen. Eine so enge Gemeinschaft wie früher habe ich weiterhin nicht, aber das ist für mich nicht so tragisch, ich habe lieber eher wenige dafür aber richtig gute Freundinnen und Freunde als viele, die mich dann doch irgendwann nicht mehr so akzeptieren, wie ich bin.
Von Robin (Instagram: @aussteigerrobin)
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