Die geistliche Elite der Freikirche

In Freikirchen wird häufig betont, dass die Leiterschaft ganz anders sei als „in der Welt“. Die Leitung, also Pastoren, Ältestenrat etc. würde sich an ganz anderen Maßstäben orientieren und müsste ja Rechenschaft an einen (unsichtbaren) Gott leisten. Somit sei die Verantwortung eine viel größere und nur „auserwählte“ Personen schaffen es in diese Positionen und Kreise. Pastoren von Gemeinden mit einer Mitgliederzahl von 100-200 Personen verdienen im deutschsprachigen Raum kein nennenswertes Gehalt, mit dem sie sich viel oder außerordentlichen Luxus gönnen könnten. Geld ist also nicht der zwingende Motivator für eine Pastoren- oder Leitungsposition. Warum also dann das Bestreben danach? Es ist Macht. Einfluss haben. Anderen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Ist das wirklich so anders, als in unserer „weltlichen“ Gesellschaft?


Wer wird Pastor, in den seltensten Fällen Pastorin? Wer wird Leiter:in? Mir ist aufgefallen, dass es häufig Verwandte und meistens die Kinder der Pastoren und Leiter:innen sind, die wie der Papa, Pastor werden. Meistens hat sich der Elternteil schon seines oder ihres Amtes erwiesen. Man glaubt also, dass das Kind dann automatisch dieselben Qualifikationen haben müsse. Das ist im Prinzip nichts anderes als Vetter:innenwirtschaft. Außenseiter:innen oder „Neue im Glauben“ haben es da meistens schwerer. Und Frauen sowieso. Es gibt in Freikirchen also ziemlich ersichtlich eine Elite. Wer nur ganz normal arbeiten geht und ein bisschen ehrenamtlich beim Reinigen hilft oder Kindergottesdienste gestaltet, hat wenig zu melden. Wer sich in der geistlichen Elite aufhält, kann sich gut und gerne damit brüsten, sein ganzes Leben für das Reich Gottes einzusetzen, für den Herrn zu arbeiten. Man ist ja schließlich dazu erwählt worden und arbeitet nicht für irgendeinen gottlosen Chef.


Auch ich war Teil dieser Elite. Während ich außerhalb der Freikirche  wenig Anerkennung bekam, genoß ich in der Gemeinde Ansehen. Dies lag daran, dass mein Vater Pastor war und obwohl er schon lange verstorben war, ruhte nun sein „geistliches Erbe“ auf mir. Ich war voller Eifer dabei und habe nie hinterfragt, warum man mir so viel zutraute. Ich dachte, ich besäße wirklich die richtigen Gaben. Ich hätte es verdient, Gott habe mich auserwählt, das bestätigte die Elite mir so. Ich hatte das Gefühl, wichtig zu sein, etwas Besonderes zu sein. Ich hatte Einfluss, Kontrolle. Nur als Pastorin hätte ich es wohl nicht geschafft. Schließlich war ich weiblichen Geschlechts…


Mir ist erst jetzt bewusst, wie viele Parallelen es in den freikirchlichen Strukturen zur Mehrheitsgesellschaft gibt. Wie hoch ist der Prozentsatz von Frauen in Führungspositionen in unserer Gesellschaft und wie ist das Verhältnis dazu von Frauen als Pastorinnen in Freikirchen? Wenn Pastoren und Leiter:innen nur vor Gott für ihr Handeln Rechenschaft ablegen sollen (und dies würde tatsächlich nach freikirchlicher Theologie im Leben danach, also im jüngsten Gericht geschehen), wird jegliche irdische Instanz, die Korrektur oder Missstände aufklärt, nichtig. Es ist nur verständlich, dass Missbrauch jeglicher Natur freien Lauf gewährt wird und das dies, wenn überhaupt, häufig erst Jahre später ans Licht kommt. Dieses System ist menschenfeindlich und gefährlich, insbesondere für vulnerable Personen wie Kinder, Jugendliche und marginalisierte Gruppen. Der Schein von einer heilen Welt bleibt aus. Und ironischerweise ist es trotz Betonung der „wir hier drinnen“- und „die da draußen“-Mentalität alles andere als geistlich. Es ist zutiefst menschlich und nach Definition der Freikirche: weltlich.

Judith

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