Die Hand Gottes regelt das!

Triggerwarnung: im folgenden Text wird sexualisierte Gewalt thematisiert (wird kurz erwähnt, aber nicht beschrieben).

„Die Hand Gottes regelt das!“, rufen meine ca. 14-jährigen Kumpels beim Tischkickern, während sie den Ball, der von keiner Spielfigur mehr erreicht werden kann, neu einwerfen. Ich bin in der Gemeinde groß geworden, aber nicht nur das. Ich bin tief von dem Glauben meiner Kindheit überzeugt. Ich habe mich bereits taufen lassen, war immer die beste im Bibel-Wett-Aufschlagen gewesen und es würde nicht mehr lange dauern, bis ich eine Aufgabe nach der nächsten in der Gemeinde übernehmen würde. Gott hat alles in seiner Hand und regelt alles. Ich bin in der Schule die absolute Überfliegerin und werde studieren können, was ich will. Das hat natürlich nichts mit meinem Können oder meinem Fleiß zu tun, sondern ist rein das Geschenk Gottes. Ich muss dankbar sein und meine Gaben nutzen! Hoffentlich kriege ich – quasi gratis dazu – den fast perfekten Mann geschenkt, den ich mit spätestens 16 anfange zu daten und dann irgendwann heiraten werde.

Ich bin 18. Mein Studium ist härter als erwartet. Ich habe einen miesen, aber notwendigen Korb von meinem Gemeinde-Schwarm bekommen. Das tat weh, aber nachdem ich jahrelang erfolglos in ihn verliebt war, kann ich jetzt damit abschließen. Auch gut. Wenn Gott es so wollte, war er eben nicht der richtige für mich. Vielleicht stecke ich den freigewordenen Platz in meinem Kopf ins Lernen. Natürlich bin ich an den Wochenenden und zusätzlich an drei Abenden pro Woche in der Gemeinde, um Gottes Reich aufzubauen. Wenn ich das als Priorität setze, wird Gott das gefallen und er wird mir Gelingen im Studium schenken. Ganz bestimmt. Und den Partner werde ich auch noch kennenlernen. Ich hoffe der vergibt mir, dass ich (durch einen Übergriff) schon mal Sex hatte. Aber vielleicht will mich jetzt auch kein anständiger, gläubiger Mann mehr. Das ist auch okay. Dann hat Gott andere Pläne.

Ich bin irgendwas Anfang 20, und ich glaube, ich geh kaputt. Was für einen Plan Gottes soll es denn geben? Ich führe ein Leben zwischen Gemeindearbeit und Absturz-Partys. Wer feiern kann, kann auch in den Gottesdienst. Meine Orientierung ist von schwankender Qualität. Wer bin ich, was will ich, was darf ich wollen? Wer regelt was, und warum? Warum setze ich mich mit so viel Energie für junge und frische Gemeinde ein, aber am Ende entscheidet irgendein Volker, dass alles gut so ist, wie es ist? Zum Beispiel, dass wir uns um 10 Uhr treffen. Jede. Woche. Am Sonntag. „Na ja, vielleicht können wir jetzt auch eine Frau predigen lassen, da haben wir schon so viel erreicht. Könnt ihr bitte das nächste Mal einen englischen Song weniger machen? Choräle wären gut. Ach ja und der Max, der muss wohl noch an seinem Gesang arbeiten, wo ist denn eigentlich Moritz? Ich verstehe auch nicht, wieso diese Jugendlichen nicht mehr so oft kommen. Als ich jung war, war das aber noch anders. Wir hatten DrEi Chöre!“

Ich kann es nicht mehr hören. Mein Glaube unterscheidet sich so stark von dem meiner Eltern. Jesus wäre linksradikal, aber Evangelikale liebäugeln mit rechter Propaganda. So wie ich meine Bibel verstehe, würde Jesus hier erstmal aufräumen. Alle, die hier gegen andere hetzen, alle, die in ihrer Selbstgerechtigkeit ihren eigenen Rassismus verleugnen und ihre Homophobie hinter Frömmigkeit verstecken, einfach in hohem Bogen aus seinem Haus rauswerfen. Es muss doch irgendwie möglich sein, meine Art von Glauben hier zu leben!

Ich bin Mitte zwanzig. Ich habe letzte Woche das erste mal in einer anonymen Umfrage bei ‚Religion‘ das Feld ‚keine‘ angeklickt. Meine Werte und Argumente messe ich nicht mehr daran, ob ich sie mit Bibelpassagen hinterlegen kann. Die Gemeinde habe ich vor einem halben Jahr verlassen. Und das fühlt sich in erster Linie sehr gut an. Befreit. Ich habe die liebevollsten Menschen in meinem Leben, die ich je kennenlernen durfte. Seit Jahren bin ich in einer sehr ruhigen, sehr gesunden Beziehung. Ich bin nicht hetero. Ich will niemals heiraten. Mein Glaube? Ein absolutes Mysterium. Falls überhaupt, dann definitiv kein christlicher, aber Jesus bleibt schon sympathisch. Es gibt Zeiten, in denen sich alles irgendwie fügt. Als gäbe es eine höhere Macht. Ich mag, wo ich bin im Leben, mag meine Richtung und meine Begleitung. Ich muss keine Theorien mehr über den Ursprung dieser rätselhaften Glücksmomente haben. Nie wieder einfache Antworten auf komplexe Fragen.

Heute war ich den ganzen Tag demonstrieren. Jetzt stehe ich in einer verrauchten Kneipe. Es gibt kaum ein Möbelstück, das nicht beschrieben und bemalt wurde. Das hier ist ein Raum, der für aktive Mitgestaltung gemacht wurde. Wir spielen Tischkicker. Ich erkläre die Regeln, wie ich sie kenne, von früher, als ich so 14 war. Und immer wenn der Ball unerreichbar wird, rufen alle Personen im Chor „Hand Gottes, Hand Gottes!“ Und der sarkastische Ton bringt uns zum Lachen, während es tatsächlich meine eigene Hand ist, die den Ball zurück ins Spiel bringt.

Anonym

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