Die Weltmenschen-Schublade

Als „Weltmenschen“ wurden in meiner Freikirche die Menschen bezeichnet, welche entweder keiner Religion zugehörig oder nicht (fundamental) christlich waren. Als Fundi (d.h. fundamental gläubige Person, so wie ich es früher war) hebt man sich von der Gesellschaft ab, glaubt, die Gruppe sei eine Elite und die übrige Menschheit wäre verloren (was übrigens ein Sektenmerkmal ist).

Mir wurde eine klare Schublade indoktriniert, wie alle Weltmenschen wären und warum ich mich von ihnen fernhalten sollte.

  • Weltmenschen würden ungehemmt Alkohol und (früher oder später) Drogen konsumieren, was sie zu schlechten Menschen machen würde
  • Weltmenschen würden immer eine Sehnsucht nach Gott fühlen, aber füllen dieses Loch im Herzen mit Dingen, die sie nicht glücklich machen (da dies nur Jesus könne)
  • Weltmenschen könnten keine glücklichen Beziehungen führen, da das Fundament der Beziehung Jesus sein müsse
  • Weltmenschen würden keine Werte oder Moral haben (da sie keine Bibel lesen)
  • Weltmenschen seien egoistisch, achten nur auf die eigenen Bedürfnisse
  • Weltmenschen seien schlechte Freund:innen, da sie egoistisch wären, keine Werte hätten und eine:n in schweren Zeiten im Stich ließen
  • Weltmenschen hätten häufig One-Night-Stands, seien beziehungsunfähig (da sie sich scheiden lassen oder Beziehungen beenden, wenn beide nicht mehr glücklich seien – das würde sie zu schlechteren Menschen machen)

Das Fazit daraus war, dass Menschen ohne Gott alle abhängig von ihren Bedürfnissen seien, sie keine Werte hätten und man sich von ihnen fernhalten solle. Es wurden immer wieder Beispiele erzählt und bei vielen Situationen, welche ich in der Schule erlebte, fühlte ich mich in dieser Anschauung auf Weltmenschen bestätigt. Durch meine Ablehnung von Weltmenschen machte ich mich selbst zur Außenseiterin, entzog mich den wenigen Veranstaltungen, auf die ich aus Höflichkeit eingeladen wurde. Zitierte ich in einer Diskussion in der Schule menschenverachtenden Fundi-Kram (welchen ich damals für normal hielt), sah ich es als Anfechtung meines Glaubens, wenn mir Weltmenschen widersprachen. Immerhin sagte ich nur, wie Gott darüber denken würde und wie ich es jede Woche mehrfach hörte!

Als meine Zweifel am Glauben aufkamen, stolperte ich über den Begriff Diskriminierung bzw. Stigmatisierung. „Eine Menschengruppe wird auf ein Merkmal reduziert und abgewertet.“ War das nicht genau das, was in meiner Freikirche mit Weltmenschen geschah? Auf meine Nachfrage in der wöchentlichen Kleingruppe gab es die Antwort, dass Weltmenschen keine Werte haben und es wurden mir zahlreiche Beispiele genannt.

Dann gab es in meinem Leben einen großen Wendepunkt, an dem sich für mich alles veränderte und ich nicht mehr an einen Gott glauben konnte. Ich wollte über meine Probleme reden, doch die Fundis fertigten mich ab mit Sätzen wie „Ich bete für dich“, womit sie mir nicht weiterhalfen und mir das Gefühl gaben, ich solle sie nicht weiter belasten.

Nachdem ich sehr lange geschwiegen hatte, begann ich auf dem Geburtstag einer nicht gläubigen Bekannten das erste Mal über einiges zu reden. Und ich war überrascht, wie viel liebevoller und empathischer die Weltmenschen mir zuhörten und für mich da waren. Ich erkannte Stück für Stück, wie stark ich in Schubladen gedacht hatte und welches Unrecht ich Weltmenschen angetan hatte. Dadurch lernte ich sehr liebe Menschen kennen. – Personen, die ein ernsthaftes Interesse an mir hatten und denen unwichtig war, ob oder was ich glaubte. Ich lernte, dass man Menschen nicht in zwei Schubladen stecken konnte, sondern wie wunderschön und einzigartig jeder einzelne Mensch ist.

Nie wieder will ich zu einer Elite gehören, die sich über andere Menschen erhebt. Ich arbeite daran, die Schubladen zu erkennen und zu bearbeiten, um die Menschen um mich herum als wertvoll, einzigartig und gleichwertig zu sehen. Heute bin ich selber ein Weltmensch: Von und in dieser Welt. Die Erde und das Leben hier sind mein zu Hause.

anonym
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