„Du hast halt nie richtig geglaubt“
Wenn Menschen beginnen, ihren Glauben zu hinterfragen, alte Glaubenssätze und Überzeugungen abzulegen; vor allem dann, wenn sie Gott ganz aufgeben, begegnen ihnen oft die folgenden Sätze:
„Du warst ja nie eine echte Christin, ein echter Christ.“
„Du hast doch Jesus nie wirklich in dein Herz gelassen.“
„Du bist doch nur enttäuscht von den Menschen, dafür kann Gott nichts.“
„Du bist eben nicht so vom Heiligen Geist erfüllt worden wie ich.“
Was all diesen Aussagen gemeinsam haben ist, dass die Schuld für den Glaubensverlust verlagert wird: der Glaube an sich, beziehungsweise das Glaubenssystem wird aus der Verantwortung genommen, und stattdessen die Schuld bei der Person gesucht, die den Glauben verloren hat. Dadurch bleibt das Glaubenssystem selbst unantastbar, es wird nicht kritisch betrachtet, es wird nicht in Frage gestellt. Es kann ja auch nicht sein, dass jemand, die oder der diesen perfekten Gott wirklich erlebt hat, diesen Glauben „einfach so“ ablegen kann. Oder?
Aber was sind liegen die Kriterien? Ab wann gilt jemand als „echte Christin“, als „echter Christ“? Ab wann war jemand „weit genug“ im Glauben, damit man ihr oder ihm als Aussteigerin oder Aussteiger einfach mal zuhören würde und sich mit den Kritikpunkten auseinandersetzen, die sie oder er vorzubringen hat?
Mit Sicherheit ist die ehrliche Bekehrung zum Glauben an Jesus Christus eine solche Bedingung. Ein Übergabegebet ist ein Muss, ohne ein solches ist kein wahres, lebendiges Christ:in-Sein möglich. Reicht es, dass jemand täglich in der Bibel gelesen hat; oder muss sie oder er auch in Sprachen beten können? Ist die Erwachsenentaufe notwendig, um als echte Christin, als echter Christ zu gelten? Muss eine Heilung durch den Glauben erfolgt sein? Erfüllte Prophezeiungen? Mit Sicherheit ist ein Kriterium, dass wichtige Lebensentscheidungen nur mit Gott gemeinsam getroffen werden. Sein Wille muss bei echten Christ:innen über allem stehen, die höchste Instanz bleiben.
Bei vielen Aussteiger:innen, die ich kenne, treffen nahezu alle diese Punkte zu. Bei mir selbst auch. Es gibt Menschen, die von großen Bühnen aus das Evangelium verkündet haben – und doch ins irgendwann ins Zweifeln gekommen sind. Es gibt Menschen, bei denen niemand je erwartet hätte, dass sie jemals vom Glauben abfallen können. Und doch ist genau das passiert. Wie könnten wir ihnen absprechen, „echte Christ:innen“ gewesen zu sein? Wer kann dieses Urteil fällen, wo wir doch niemandem ins Herz sehen können, keine Lebensgeschichte in all ihren Tagen kennen? Wer könnte über jemand anderen mit Recht behaupten, sie oder er hätte den Glauben einfach nicht ernst genug genommen?
Von all den Geschichten, die ich von Aussteiger:innen bereits gelesen und gehört habe, würde ich sagen, dass niemand den Glauben einfach auf die leichte Schulter genommen hat. Uns allen war der Glaube unfassbar wichtig, oft das Wichtigste überhaupt. Und niemand von uns hat einfach über Nacht entschieden, diesen Glauben abzulegen, weil es ja einfacher ist, nicht mehr zu glauben. Oder weil es uns zu anstrengend wurde, immer auf diesen Jesus hören zu müssen.
Am Anfang vieler Dekonstruktions-Geschichten steht der Zweifel, der erst klein gehalten wird und plötzlich, unaufhaltsam, immer lauter wird. Weil das Leben andere Geschichten erzählt als die Predigt. Weil Dogma und Erfahrung nicht mehr zusammenpassen. Weil man anfängt, an Gott zu zweifeln, an ihm zu verzweifeln. Und neue Wege suchen muss, weil die alten nirgendwo mehr hinführen.
Kaum jemand trifft diese Entscheidung leichtfertig. Wir haben gute Gründe, warum wir es dennoch getan haben. Und diese Gründe sind so viel öfter im System dieses Glaubens zu finden, als in unserer fehlenden Ernsthaftigkeit oder unserem fehlenden Willen.
Von Sandra (Instagram: @insight.and.out)
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