Expert:in für das eigene Leben – ein No-Go!?

Expert:in für das eigene Leben zu sein, war aus Sicht meiner Gemeinde unchristlich. Dahinter würden Gefahren lauern wie Egoismus, unberechtigte Autonomiebestrebungen und letztlich die Ursünde, das sich Erheben über Gott. Aber ab einer gewissen Hierarchieebene ist oder soll man dann plötzlich Expert:in für das Leben anderer sein?

Wahrscheinlich bin ich nicht die Einzige, die immer noch Bauchschmerzen bezüglich dessen hat, was sie als „Expert:in“ für das Leben anderer eventuell angerichtet haben könnte. Man sollte damals in das Leben anderer sprechen, ohne sich selbst und das eigene Leben kennenlernen zu dürfen. Man sollte Verantwortung für das Leben anderer tragen, aber für sein eigenes Leben kann man die Verantwortung angeblich nicht tragen? 

Lebensanweisungen waren möglichst wörtlich, wie von Gott „vernommen“, nach unten durchzureichen. Dass das gar nicht möglich ist, weil immer eigene Anteile mitschwingen, bei denen ich ohne Selbsterkenntnis auch keine Chance habe, sie auch nur ansatzweise zu identifizieren, steht auf einem anderen Blatt. Letztlich steckt ein klares Hierarchiesystem dahinter: Gott – Gemeindeleitung – Gläubige (und wohl auch Gott – Mann – Frau).

Und am Ende werden dadurch auch die Würde, die „Gottebenbildlichkeit“ und der doch immer wieder gepredigte „direkte Zugang zu Gott“ des einzelnen Menschen nicht respektiert, und Grenzüberschreitungen zum Normalzustand. Ich erschrecke immer noch, wie tief mich das geprägt hat. 

„Steh auf deinen eigenen Füßen!“ war trotz enormer eigener Freiheitsliebe der wichtigste Zu- und Freispruch in meiner Dekonstruktion. Erst die folgende Situation hat mich dazu gebracht, nachhaltig die Verantwortung für mein Leben selbst zu übernehmen: Als ich die Angst vor Überforderung auf dem Gesicht meines Gegenübers wahrnahm, in einem Moment, indem ich mal wieder Verantwortung abladen wollte.

Ein leider viel zu spät erkannter Widerspruch: Keine Expert:in für das eigene Leben sein zu dürfen, aber als Leitungsperson Expert:in für das Leben anderer sein zu müssen.

Anonym

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