Mein Weg in die freikirchliche Szene war ein schleichender Prozess. In meiner Kindheit und Jugend durchlief ich innerhalb der Landeskirche die Babytaufe; später den Religions- und Konfirmand:innenunterricht. Danach sah man mich nur noch selten in der Kirche. Mit Anfang 20 – nach einem abgebrochenen Studium – lernte ich über eine damalige Freundin eine landeskirchlich geprägte Lebensgemeinschaft kennen. Im Nachhinein betrachtet, zählten zu dieser Gemeinschaft viele Menschen mit eher fundamental-freikirchlichen Hintergrund. Aber das wusste ich damals noch nicht, für mich waren sie einfach „nur christlich“. Ich lernte dort Menschen kennen, die ihren Glauben im Alltag lebten. Das fand ich beeindruckend, da ich von der Landeskirche nur den „Sonntagsglauben“ kannte. Ich stolperte regelrecht in diese Gemeinschaft hinein und war sogleich fasziniert von deren täglichen Gebeten, der „Stillen Zeit“ am Morgen und den Gesprächen, die sich nahezu ausschließlich um Gott und Jesus drehten. Mein Leben schien plötzlich eine neue Richtung zu bekommen. Ich hörte, dass man sich für Jesus entscheiden müsse, um „wiedergeboren“ zu werden. Das wollte ich auch! Ich wollte nun Jesus mit ganzem Herzen folgen! Heute sehe ich es eher so: Ich war ein Kind, das scheinbar ein Stück Vertrautes wieder gefunden hatte, das gleichzeitig Neuland war. Ein paar Monate später begann ich eine Ausbildung. Während dieser Zeit besuchte ich regelmäßig Gottesdienste und fehlte keinen Sonntag mehr. Ich ritt auf einer elektrifizierenden „Jesus-wave“ und leitete mehrere Kleingruppen oder Sonntagskirchen. In diesen Kreisen hörte ich dann erstmals von einem Schiff, das verschiedene Länder bereist, um dort von Jesus zu erzählen. Das war es! Mein Auftrag! Reisen & Jesus! Meine Passion & Mission!
Nach Abschluss der Ausbildung ging ich auf dieses Missionsschiff. Dort lernte ich definitiv beeindruckende und inspirierende Menschen kennen, mit denen ich teilweise auch heute noch befreundet bin. Ich bereiste spannende Länder, lernte unterschiedlichste Kulturen kennen und hatte tolle Begegnungen, für die ich noch heute tief dankbar bin. Aber es gab auch viele prägende Momente, die meinen Glauben wanken ließen. Besonders eindrücklich war eine Begegnung mit einem schottischen Missionar in Thailand: Ich „wagte“, ihm gegenüber, der seit über 30 Jahren Lehrer, Ältester und Leiter einer konservativen Brüdergemeinde war, eine Bibelstelle zu hinterfragen. Ich stellte ihm eine ehrliche, ja vielleicht sogar naive Frage. Er schaute mich voller Entsetzen an und sagte scharf: „Don‘t you dare to question God!“ Ich werde diese weit aufgerissenen und vielleicht auch angstvollen Augen nicht vergessen. Zurück in meiner Unterkunft weinte ich stundenlang ohne zu verstehen, weshalb. Ich hatte nicht vorgehabt, diesen Mann zu verärgern oder zu verletzen. Ich wollte lediglich verstehen. In den Wochen danach wurde mir deutlich: Gott scheint nicht derjenige zu sein, der Angst vor meinen Fragen hat, Menschen allerdings schon. Meine Fragen schienen Unbehagen auszulösen (nicht nur einmal) und sie hatten offenbar ihre Grenzen. Immer mehr musste ich mir eingestehen, dass es (aus meiner Sicht) wenig Raum für echten Dialog gab oder wenig Offenheit zu sagen: „Keine Ahnung! Weiß ich grad nicht.“ Auf alles schien es eine Antwort zu geben, die man danach auch nicht anzweifeln oder gar hinterfragen durfte.
Mit Anfang 20 gab mir dieser fundamentale Glaube vermutlich Sicherheit, mit den Jahren jedoch schien er mich zunehmend zu erdrücken. Manches Mal wurden meine Zweifel auch abgetan, sicherlich liebevoll gemeint, mit: „Gib deine Fragen oder Zweifel einfach an Gott ab. Er wird dir Glauben schenken.“ Und wie ich betete! Und einfach war da auch nichts! Dann bat ich andere, für mich zu beten, da ich glaubte, sie hätten mehr Gehör bei Gott. Über die Jahre wurde es immer schwerer, denn wie sollte ich mit einem Gott im Gespräch bleiben, an dessen Existenz ich zu zweifeln begann. Nicht selten hatte ich das Gefühl, dass ich die Schuld bei mir suchen müsste, da viele meiner Gebete unbeantwortet blieben. Ich zweifelte, in erster Linie an mir. Und irgendwann verzweifelte ich. Warum schienen die anderen keinen Konflikt darin zu sehen, dass beispielsweise Gott doch alle Menschen schuf und bedingungslos liebt, um dann doch nur einer kleinen Anzahl an Auserwählten das ewige Leben zu schenken?
Seit 2016 besuche ich keine (Frei)Kirche mehr. Ich dachte immer, es würde mir den Boden unter den Füßen wegreißen, mich entwurzeln, aber dem war nicht so. Im Gegenteil: Es war ein Befreiungsschlag, als ich mich nach 12 Jahren dazu entschied. Ich nenne es weniger einen Ausstieg, sondern eher ein Fernbleiben von der Kirche. Auch wenn es im Nachhinein ein sehr schmerzvoller Prozess war, mit einer langen Vorlaufzeit, so fühlte sich vieles danach so zwanglos an. Seither habe ich das Gefühl, ehrlicher mit mir selbst und meiner Umwelt zu sein. Ich darf Fragen stellen, offen über meine Gedanken oder Zweifel reden – ohne schlechtes Gewissen, ohne diffuses Scham- oder Schuldgefühl. Endlich musste ich nicht mehr mit mir hadern, ob ich zu wenig Zeit mit Gott oder der Bibel verbracht hatte. Ich verstand mit der Zeit, dass ich die Verantwortung für mein Leben häufig abgegeben hatte, ohne es überhaupt zu merken. Ich vergaß für viele Jahre, dass ich ein freier Mensch bin, auch wenn vielleicht niemand „wahrlich frei“ ist…?! Hin und wieder kommt es vor, dass ich einen Gottesdienst besuche. Dann fällt mir auf, dass nichts mehr so ist, wie es mal war. Mein kindlicher Glaube ist nicht mehr da. Ich gebe zu, das macht mich dann schon traurig, da dieser Glaube mir ja doch lange Zeit Hoffnung und Halt gegeben hat. Was jedoch heute für mich überwiegt: Ich habe den Eindruck, mehr ich selbst zu sein – mit meinen Ängsten, Zweifeln und ohne diffuse Schuldgefühle oder Bedingungen, die über Himmel und Hölle entscheiden. Ich fühle mich frei(er) und darf nun feststellen: Ich habe neue Wurzeln geschlagen.
Anonym
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