„Ich glaube, sie beten gerade ihre Dämonen aus.“

Triggerwarnung: im folgenden Text werden Charismatische Erfahrungen und Dämonen thematisiert.

Im Folgenden werde ich eine Situation schildern, in der ich etwa 7 Jahre alt gewesen bin.

Ich laufe mit meiner Freundin P. in das Gemeindehaus, denn dort findet heute eine charismatische Veranstaltung statt, bei der sich Christ:innen aus unterschiedlichen Gemeinden treffen und gemeinsam Gottesdienst feiern. Als wir den Gottesdienstsaal betreten, tritt uns eine penetrante Dunstwolke entgegen. Es riecht nach Schweiß und Käsefüßen. Der Saal ist gefüllt mit ca. 300 Menschen, die zu wilder Lobpreis Musik tanzen; es ist so stickig und heiß, dass das Wasser förmlich von der Decke tropft. In der Ecke stehen drei Männer, die ineinander verkeilt auf Stühlen auf- und abhüpfen. Die Musik ist so laut, dass sie P.s Bemerkung über den Gestank einfach übertönt. Sie stupst mich an, und wedelt mit der Hand vor der Nase rum. Ich nicke und sie zieht mich mit in Richtung Tür. Es ist dunkel, auf der Bühnen leuchten ein paar Spotlights in Gelb- und Rottönen. Im Tageslicht, das aus dem Flur in den Gottesdienstraum scheint und den Weg zur Bühne erhellt, liegt eine Frau am Boden. Schreiend. Sie wackelt kräftig mit Armen und Beinen. Tritt mehrmals mit den Füßen aus und brüllt, Tränen rinnen über ihr Gesicht. Zwei Männer haben sich über sie gestützt, legen ihr die Hand auf den Kopf und beten offensichtlich für sie. Die Frau ist eine Freundin meiner Mutter. Einer der Männer ist der Vater meiner Freundin. Ich weiß zwar nicht genau, was die Männer mit dieser Frau machen. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie gerade ihre Dämonen ausbeten. Ich sehe der Frau noch kurz zu und denke mir „Endlich mal wieder was los in der Gemeinde. Klasse zu sehen, wie sie sich für Gott öffnen kann, damit er in ihr wirkt.“ Im gleichen Moment reißt mich P. aus meinen Gedanken: „Komm mit, wir gehen!“, winkt sie mich raus. Solche Situationen waren für mich kein Alltag. Aber es kam immer wieder vor. Für mich war es aus damaliger Sicht faszinierend, da das Wirken des Heiligen Geistes nun „wirklich sichtbar“ wurde. Schockiert hat mich diese Szene vielleicht im Unterbewusstsein. Aber in diesem Moment war ich einfach stolz darauf, zu einer Gemeinde zu gehören, in der der Heilige Geist so sehr wirkte. 

Die meisten alltäglichen Probleme wurden in meiner Gemeinde auf die geistliche Ebene abgeschoben. Konkret heißt das zum Beispiel, dass es für viele Alltagsprobleme es einen „bösen Geist“ gab. Wenn ein Kind öfter Trotzanfälle hatte oder keine Lust hatte, einen Gottesdienst zu besuchen, wurde ihm nachgesagt, in ihm stecke der Geist der Rebellion. Wenn eine Frau „zu“ roten Lippenstift oder einen Minirock trug, steckte in ihr der Geist der Hurerei. Auf einer Person mit Depressionen lastete ein Fluch und die Person musste „ausgebetet“ werden. Das gleiche galt für familiäre Probleme. Statt den Menschen zu professioneller Hilfe zu raten, fielen Sätze wie „Gott ist der beste Arzt“ und „Jesus ist der beste Therapeut“. Es wurden Beispiele von Leuten genommen, deren Beschwerden durch Gebet geheilt wurden. Und so meinten wir zu wissen: Gott. Heilt. Zwar wann er will, aber er heilt. Wenn er dich nicht heilt, dann steht noch etwas zwischen dir und Gott, dann hast du dich noch nicht vollkommen investiert, dann bist du noch nicht richtig „dabei“ oder du hast vielleicht nicht mit Vollmacht gebetet. Dadurch wurden viele Menschen unterdrückt und vom Leben abgehalten. Einer Frau, deren Mann an einer Krankheit gestorben war, sagte man, ihr Mann sei gestorben, weil sie nicht genug gebetet hätte. Und so gibt es haufenweise Anekdoten zu erzählen. 

Ich habe selbst lange Zeit geglaubt, dass irgendwas mit mir nicht stimmte, da ich selbst keine geistlichen oder übernatürlichen Erfahrungen machte. Dadurch habe ich das Gefühl bekommen, dass ich vielleicht von Dämonen besetzt war oder der Teufel die Macht über mich hatte, was sich auch in meinem Verhalten sehr stark widerspiegelte. Ich traute mir nichts zu, war ängstlich, konnte nicht auf Leute zugehen. Manchmal lag ich in meinem Bett und betete die halbe Nacht, dass Gott/ Jesus/ der Heilige Geist doch endlich kommen möge, um mich zu befreien und mich mit seiner Liebe zu überschütten. Und auch sehr lange nach meinem Ausstieg habe ich mich nicht getraut, unter „weltlichem“ Einfluss zu leben. Heute bin ich froh, mich von dem Ganzen gelöst zu haben und meinen eigenen, freien Glaubensweg gehen zu dürfen. 

Leo

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