„Ich habe nie gelernt, auf meine innere Stimme zu hören“

Ich bin im Bewusstsein aufgewachsen, dass alle Menschen sündig sind und Gottes Hilfe brauchen. „Ohne Gott bist du nichts“ wurde mir eingetrichtert und „Nur Gott gibt dir wahren Selbstwert“. So habe ich mir selbst jede Fähigkeit, mich zu reflektieren, mich weiterzuentwickeln, an mir zu arbeiten, abgesprochen. Ich bin total passiv geworden in der Haltung, dass nur Gott mir helfen kann. Wie oft habe ich auf Impulse oder Wunder, starke Veränderungen von außen gewartet und bin meine persönlichen Probleme nie selbst von mir heraus angegangen, weil ich mich dazu gar nicht kompetent genug fühlte!

Diese starke Fixierung auf Gott als Helfer und Retter und das dadurch entstehende Gefühl der Hilflosigkeit hat meine Entmutigung nur weiter wachsen lassen. Ich hatte kein Selbstvertrauen, auch Krisen meistern zu können. Und damit machen diese Gedanken problematische Situationen oder Phasen eigentlich eher schlimmer anstatt zu helfen, was so oft als der „große Vorteil“ am Glauben beschrieben wurde. Außerdem habe ich die Verantwortung vor meinem eigenen Leben abgegeben, mich versteckt, konnte immer alles auf Gott schieben.

Ich habe einfach darauf gewartet, dass er mir sagt, was ich tun soll, und dass ich ohne zu Hinterfragen seinen Willen tun kann – das konnte ja schließlich keine falsche Entscheidung sein. Diese absolut schädliche Verhaltensweise tarnte sich als Charakterzug einer wahrhaft gläubigen Person. Sätze wie „Nichts Anderes soll mein Herz regieren als die Stimme des Vaters, der mir sagt, was ich tun soll“ zeigen deutlich das Gottesbild eines Leiters, eines „Hirten“, einer Person, an die man die Verantwortung abgeben kann, aber auch die vollkommene Selbstaufgabe. Permanent habe ich meine eigenen Gedanken, Wünsche, Bedürfnisse hinterfragt. Mein ganzes Leben war von Unsicherheit begleitet: „Kommt dieser Wunsch von Gott? Warum will ich das? Darf ich das wollen?“ Ich habe nie gelernt, auf meine innere Stimme zu hören, sondern habe immer nur danach gefragt, was Gott will und keinerlei eigenes Profil, keine eigene Identität, keine eigene Persönlichkeit aufgebaut. Jahrelang habe ich mich selbst komplett aufgegeben. Und das hat noch immer gravierende Auswirkungen, weil ich in der Beziehung zu anderen Menschen dadurch sehr anpassungswillig geworden bin, oft ohne nachzudenken ihren Vorschlägen zustimme, mich kaum frage, was ich eigentlich will.

anonym

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