Morpheus.
„Gott“
Dieses Wort sitzt wie Blei auf meiner Zunge und hinterlässt in letzter Zeit einen Beigeschmack, den ich nicht einschätzen kann.
Nie einschätzen müssen wollte.
Doch mittlerweile so vertraut, dass er ganz unbemerkt wie das Blut durch meine Venen, direkt ins Herz fließt und dann wieder zurück bis es schließlich jede Zelle meines Körpers erreicht: Zweifel.
Ich habe da ein paar Fragen an dich: Gott.
Themen durchfluten meine Gedanken und wollen sich nicht sortieren lassen.
Auf jede Frage eine christliche Antwort.
An jeder Antwort ein Abhang, dem ich mich nicht nähern darf, da er nicht erschaffen wurde, um erforscht zu werden. Doch er wurde erschaffen.
Oder entwickelte er sich über Jahrmillionen in mir?
So oder so stehe ich am Abhang der Antworten, die nicht tiefer gehen als der Zaun aus Draht, der das Einzige ist, was mich von dieser ewigen Schlucht trennt.
Gott.
Der Regenwald brennt
und Rauch zieht über unsere überbevölkerten Länder, in unsere überbevölkerten Kehlen.
Nephesh.
Wir atmen gehetzt ein, bevor wir einen weiteren Bissen von diesem kleinen Stück Fleisch nehmen, für dessen Herstellung über zwei-mal-tausend Liter Wasser fließen mussten.
Zwei.Tausend.Liter.Wasser.
Gehetzt überfliegen wir die Nachrichten über Hungersnot, überlesen flüchtig Krisen und kriegen vom Schock nicht genug. Die Sucht nach der Emotion. Die Suche nach meiner Version, von dem was passiert.
Gott.
Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.
Verstört blicke ich auf deine Allmacht, sie macht alles so erdrückend und undurchschaubar.
„Es kommt auf die Definition an“, meldet sich der Zaun zu Wort, der mich vom Abhang fernhält.
Theologische Erklärungen durchströmen ihn, bereit mir einen Stromschlag zu verpassen, falls ich mich der Tiefe nähern sollte.
Oder ist es „dein Wort“, wie sie es nennen, die Grundlage unseres Glaubens.
Zwei-mal-tausend Jahre trennen mich von ihm lassen mich nicht erkennen was davon dein und was daran mein ist.
Und überhaupt,
was bedeutet „dein Wort“?
Die unumstößliche Wahrheit, der ich mich nicht widersetzen kann,
da du ja eh die ewige Antwort hast, die sich mit diesem lauten Schweigen auf der Erde absetzt,
wie die Asche nach dem Brand.
Gott.
Ich habe mich verliebt, in Dinge, von denen ich nichts weiß, die mich doch weisen und erforschen lassen, mich inspirieren und nicht verblassen, sobald ich versuche nach ihnen zu greifen.
Nietzsches Klagelied des toten Gottes,
Gandhis interreligiöser Widerstand,
Hawkins Weitsicht in die Materie,
Rosales Revolution der Kunst.
Aufklärung, Wissenschaft, Interreligiosität, Sexuelle Vielfalt, Philosophie, Soziologie und die Liebe zu all den unperfekten und fehlerbehafteten Versuchen der Menschheit zu überleben.
Gott.
Weißt du was wir alle, die wir hier unten Geschichte schreiben gemeinsam haben?
Wir leben aus keiner Übernatur, denn wir stehen nicht über unserer Natur.
Wir, die Suchenden, haben keine Antwort, die dort so idealistisch und perfekt auf der Kanzel glänzt.
Wir, die Zweifelnden, hoffen dich im Staub des Leidens ganz unvollkommen und ratlos, aber voller Güte und Zuneigung zu finden.
Wir suchen dich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
in den Erste-Hilfe-Kursen,
in dem Rettungsring auf dem Mittelmeer,
in der Leiche Dorothy Mae‘s,
in der Gedenkstätte am Frankfurter Hauptbahnhof.
„Es passiert alle aus einem Grund“
durchströmt der Schlag der Theologie mein Bein, während ich über den Zaun der christlichen Antworten klettere.
„Alles aus einem Grund“
wiederhole ich den Schein und blicke in den Ab-Grund aus Fragen, von dem mich nun nichts mehr trennt.
Eine Hand klammert sich an den Zaun, dessen Strom mir Kraft schenkt und mich mit Energie für den letzten Sprung versorgt.
Ein kleiner Funken Hoffnung, während mir Morpheus, der griechische „Gott der Träume“, die rote und die blaue Pille hinhält.
Traum oder Realität?
Blau oder rot?
Blau?
Rot?
Gott?
Ich weiß nicht, warum du mir blau vorkommst, aber ich weiß, dass ich dem Glanz des Traumes entrinnen muss. Meine letzte Hoffnung flackert vor mir auf, während ich die rote Pille auf meiner Zunge zergehen lasse.
Mein letzter Wunsch, dass dein Gesicht nicht im blauen Nebel des Scheins verblasse, sondern aufgeht in der Dämmerung der Morgenröte.
von Elisa (Instagram: @tiijou)
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