Kindheit unter „Gottesführung“

Schon als kleines Mädchen ging ich jeden Sonntag in den Gottesdienst. Meine Eltern waren am Aufbau unserer Gemeinde mitbeteiligt und gehörten somit zum Kern der Gemeinde. Als mein Papa einer der Ältesten wurde, habe ich angefangen zu weinen. Ich hatte Angst, er würde nun noch weniger Zeit für uns als Familie haben und ich fand es schön, im Gottesdienst bei ihm zu sitzen. Er war die ganze Woche über weg, weil er arbeitete. Meine Mama war für uns Kinder da.

Ich wuchs also mitten in dieser Gemeinde auf. ­Unser gesamtes Leben war nach ihr ausgerichtet. Bibelstunde am Montag und am Mittwoch. Dazu kam mittwochs die Probe für den Gemeindechor, in dem ich auch irgendwann mitgesungen habe. Zudem sonntags der Gottesdienst. Auch mein Kindergarten wurde von der Gemeinde veranstaltet, obwohl dort niemand ausgebildete:r Kinder­gärtner:in war. Die Kindergartentage wurden von unseren Mamas geleitet. Das war immer schön. Generell verbinde ich keineswegs nur schlechte ­Erinnerungen an die Zeit in dieser Gemeinde.

Ich habe dort auch meine besten Freundinnen kennengelernt und wurde sie für die Zeit auch nicht mehr los. Ich fühlte mich teilweise so unwohl in ihrer Anwesenheit, weil ich gerne auch andere Freundinnen gehabt hätte. Aber erstens waren „weltliche“ Freund:innen weniger wert als welche aus dieser Gemeinde und es mischten sich immer wieder die Ältesten ein, wenn wir Streit hatten. Wenn ich mal nur etwas mit der einen Freundin ohne die andere machen wollte, ging das nicht. Das war nicht erlaubt. Genauso wie Kino oder die Großeltern über das Wochenende zu besuchen. Denn am Sonntag im Gottesdienst mussten wieder alle da sein. Wer gefehlt hatte, musste unangenehme­ Fragen beantworten. Alles unter dem Vorwand, Jesus gefalle das so.

Generell rückte sich ein Mann immer in den Mittelpunkt. Vor dem Gemeindeleiter musste alles gerechtfertigt werden. Warum man die Tochter auf diese oder jene Schule schicken wollte, warum man in den Urlaub fahren musste. Wirklich jede kleine Lebensentscheidung musste abgesprochen werden. Der Kontakt zu „nicht christlichen“ Familienmitgliedern sollte abgebrochen werden. Bei unserer Familie war das zum Glück alles nicht so extrem. Meine Mama setzte sich oft für uns Kinder ein und duldete nicht, dass wir ohne Oma und Opa aufwuchsen. Doch gingen wir, wegen der Vorschriften der Gemeinde, bei Hochzeiten nicht in die Kirche. Selbst bei Beerdigungen warteten wir vor der Kirche.

Wir fühlten uns als die einzig wahren Gläubigen. So wurde es uns immer erzählt. Die anderen Christ:innen seien fast alles Scheinchrist:innen und spätestens vor dem jüngsten Gericht würde das alles auffliegen. Dadurch hatte ich Angst. Und wollte mich von möglichst vielen „weltlichen“ Eindrücken fernhalten. Also kein bewusstes Konsumieren von weltlicher Musik. Das war mir auch nur im Auto möglich, im Radio. Trotzdem bekam ich einiges aus der Schule mit und ich erinnere mich noch ganz genau, wie die Band „Freiwild“ bei uns an der Schule an Beliebtheit gewann. Ich habe zu Hause also auf YouTube nach der Band gesucht und mir gefiel die Musik. Ich zeigte das Lied meiner besten Freundin und sagte ihr, wie schrecklich ich das finden würde. Ich hatte Angst, sie verurteilt mich oder verrät es meinen Eltern oder erzählt es in der Gemeinde rum.

Ich hörte solche Musik heimlich und mir gefiel sie immer mehr. Ich konsumierte immer wieder gerne noch extremere Bands wie „Trailerpark“. Das war für mich die pure Rebellion. Ich sagte mir, Gott liebt dich bestimmt auch noch, wenn du solche Musik hörst. Wirklich sicher war ich mir jedoch nicht. Ich habe in der Kinderstunde gelernt, dass es keine Bedingung für Gottes Liebe gibt. „Er liebt den Sünder, hasst aber die Sünde.“ Ich dachte, dadurch, dass ich absichtlich „sündige“, vergibt Gott mir das nicht. Ich habe auch nicht um Vergebung gebeten. Und werde es nie tun. An Musik hören ist nichts falsch. Egal ob Metal oder Rap, es ist und bleibt Musik. Für mich der höchste Ausdruck der Gefühle und der Beginn meiner kleinen Rebellion.

Mit der Zeit wurde die Lage in der Gemeinde immer ungemütlicher. Die Machtspiele begannen nun auch bei uns Kindern. Wir gingen alle zur selben Schule und in jeder ersten Pause trafen wir uns und lasen eine Andacht. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr darauf. Ich wollte lieber was mit anderen Freund:innen machen. Aber das hätte ich niemals sagen können. Nun begannen jüngere Jungen uns ältere Mädchen zu bevormunden und spielten sich auf, als wären sie was Besseres. Das hat meiner Mama dann gereicht. Für sie war an der Stelle das Maß absolut voll. Zusammen mit meinem Papa und einer anderen Familie legten sie alle Kritikpunkte in einer Bibelstunde vor. Daraufhin verließen wir die Gemeinde. Ich sehe das Gebäude jeden Tag, wenn ich zur Schule fahre.

Meine Eltern haben sich für uns immer stark gemacht. Ich hatte keine schlechte Kindheit, aber sie war nicht unbeschwert. Bis heute hängt mir einiges nach und ich durfte neu zu Gott finden. Zweifel zulassen und sie als gut befinden. Anklagend sein, warum sowas passiert ist. Wie es sein konnte, dass jemand in Gottes Namen die eigene Macht so missbraucht und andere Menschen so darunter leiden lassen konnte.

Wie viele Familien darunter kaputt gegangen sind, wie viele Menschen dadurch verletzt wurden und wie viele nachwirkende Schäden entstanden sind. Ich bin froh, dass ich die Erfahrung machen durfte, dass nicht alle anderen Christ:innen „falsche Christ:innen“ sind. Dass es andere Freikirchen gibt, die dich akzeptieren, so wie du bist. Wo du freiwillig sein kannst und gemocht wirst. Wo auf deine Gefühle geachtet wird und dir dein persön­licher Freiraum gelassen wirst. Ich danke meinen Eltern, dass wir kein Teil dieser ­alten Gemeinde mehr sind.

Anonym

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