„Meine Mutter so verzweifelt zu sehen, brach mir das Herz“

Ich wuchs in einem christlichen, liebevollen Elternhaus auf. Es gab weder Fernseher noch PC, erst sehr viel später, als ein Computer für meine schulischen Aufgaben relevant wurde, bekamen wir einen von meinem Onkel. Bis heute haben meine Eltern keinen Fernseher. Meine Eltern haben sich erst recht spät kennen und lieben gelernt, sie haben demnach auch erst Kinder bekommen, als sie über 40 Jahre alt waren. 

An meine frühe Kindheit erinnere ich mich nicht allzu genau, stattdessen habe ich nur noch Erinnerungen an Bruchteile und Emotionen. Bis heute weiß ich sehr genau, dass aus diversen Gründen das Wort meiner Eltern von mir niemals in Frage gestellt wurde. Aus heutiger Sicht sehe ich das sowohl kritisch, als auch positiv. Viele Entscheidungen wurden mir damals einfach abgenommen, die tatsächlich Kinder in jungen Jahren manchmal etwas überfordern können. Das ist der positive Aspekt. 

Als negativ empfinde ich, dass ich mich lange Zeit für meine eigene Meinung sehr geschämt habe. Nicht, dass meine Eltern sie mir verboten hätten, ich hatte nur zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, sie frei äußern zu können, ohne sie damit zu verletzen oder zu enttäuschen. Ein witziger Aspekt: ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich das erste Mal das Wort „scheiße“ laut ausgesprochen habe. Ich war 14 Jahre alt und meine Schulkamerad:innen, die es hörten, schenkten dem nicht einmal Beachtung, ist ja schließlich ganz normal. Für mich dagegen brach eine Welt zusammen. Ich konnte das Wort nicht mehr zurück nehmen, diese Grenze war überschritten. Ich hatte versagt. Diese ständige Versagensangst und der Druck, meinen Eltern keinen Kummer bereiten zu wollen, nahm über die Jahre immer weiter zu. Das relativierte sich erst in einem Alter von ca. 19 oder 20 Jahren, als ich von zu Hause auszog und Abstand zu meinen Eltern bekam. 

Ich zog zu meinem damaligen Freund. DIE Sünde schlechthin. Ich hatte nicht nur einen Freund, sondern ich lebte mit ihm unter einem Dach und das völlig unverheiratet. Eines schönen Sommertages fand ich meine Mutter weinend in ihrem Bügelzimmer. Verzweifelt, weil sie in unserer Erziehung versagt hatte. Sie ertrug die Schuld nicht mehr, die sie an unserem sündhaften Leben hatte oder glaubte zu haben. 

Aus meiner Sicht hatte meine Mutter an der Sache am wenigsten Schuld. Sie war diejenige, die mir trotz all der strengen Regeln und Dogmen diese großartige Liebe geschenkt hatte, die es mir möglich gemacht hat überhaupt erst zu akzeptieren, dass ich anders war, als alle Menschen, die doch so „perfekt christlich“ lebten. Meine Mutter so verzweifelt zu sehen brach mir das Herz und machte mich gleichzeitig unfassbar wütend auf dieses furchtbare Weltbild, das meine Mama so tief in ihrem Herzen trug. 

Man sollte meinen, dass eine erwachsene Frau, die zu dem sehr intelligent ist, selbst verantwortlich ist, wenn sie das „mit sich machen lässt“. Ich weiß es aber besser. Auch sie wuchs in dieser Gemeinde auf, auch sie wurde zum Opfer der Lehre der Prediger und Brüder aus ihrer Gemeinde. Auch sie hatte aus denselben Gründen wie ich keine Freund:innen außerhalb der Gemeinde, die ihr zeigten, dass es auch anders geht. Wir waren gleich, mit dem Unterschied, dass ich dabei war, den Absprung zu schaffen. Für meine Mama kommt das nicht in Frage, sie identifiziert sich vollständig über ihren Glauben. Nur jemand, die oder der weiß wovon ich da rede, kann mich verstehen, wenn ich sage, dass meine Eltern es zu keinem Zeitpunkt böse mit mir gemeint haben, sondern selbst gefangen sind in dieser Bubble. Die Blase um uns herum war so riesig und so allumfassend, dass alles – auch wenn das in unserer so vernetzten und digitalen Welt kaum möglich zu sein scheint – nur als dumpfes Geräusch zu uns durchdrang. Weltliche Dinge wurden totgeschwiegen, totgeredet, totdiskutiert, sie wurden verbannt und hatten nicht den kleinsten Platz in unserer Blase.

Komplette Isolation. Bis heute sind meine Eltern sehr isoliert und haben auch nur Freund:innen aus ihrer Gemeinde. Ich könnte ein ganzes Buch mit meiner Geschichte füllen: mit psychischer und physischer Gewalt, den Glaubenssätzen und Regularien, mit denen ich mein früheres Leben verbracht habe, meine Entwicklung bis hin zur Selbständigkeit usw. Wenn ich aber aus aktueller Perspektive auf meine Kindheit und Jugend schaue, verstehe ich mein heutiges Ich um einiges besser. Bis heute gibt es immer noch Konflikte zwischen mir und meinen Eltern, die wir manchmal tatsächlich diskutieren, die meiste Zeit aber einfach totschweigen. Das tun wir, weil wir uns lieben. Ich weiß, dass für meine Eltern der Glaube an allererster Stelle steht (und ja, inzwischen komme ich ganz gut mit dieser Tatsache zurecht, weil ich sehe, dass meine Mutter so viel Liebe für ihre Mitmenschen und vor allem für meine Schwester und mich übrig hat, dass ich einfach dankbar bin so eine tolle Frau als Mutter zu haben). Aber ich sehe es gelassener als früher, weil ich mein eigenes Leben habe, mit meinen eigenen Regeln und auch wenn meine Eltern ein anderes Leben bevorzugen, akzeptieren sie dennoch meines, so wie ich ihres. Das hat auf beiden Seiten lange gedauert, aber ich fühle mich gut mit meinem Leben, auch wenn ich in Sünde lebe laut meines früheren Weltbildes. Komplett werde ich dieses innere Gewissen und diese christliche Moral niemals ablegen und ein Teil von mir ist froh um eine gute Moral, aber der andere Teil in mir kämpft gegen dieses strenge Gewissen an, denn heute teile ich keineswegs alle Glaubens- und Moralvorstellungen meiner Eltern und dennoch sind sie in meinem Gewissen verankert… und das war keine Entscheidung von mir, sondern die von Menschen weit vor mir und meinen Eltern. Jene Menschen, die diese Gemeinde gegründet haben.

anonym

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