Schuldgefühle während der Dekonstruktion

Schuldgefühle… in meinem Dekonstruktionsprozess spielten und spielen sie noch immer eine große Rolle. Habe ich Gott den Rücken gekehrt? Mache ich einen Fehler? Bin ich nur ein böser Egoist, der Gott gegenüber nicht gehorsam sein will? Mach ich das nur aus Trotz, weil ich enttäuscht wurde? Enttäusche ich meine Eltern und Freund_innen? Werde ich nun von Gott oder dem Leben dafür bestraft? Wird mir Glück und Zufriedenheit auf diesem Weg verwehrt bleiben?

Ich stelle mir all diese Fragen, nachdem ich gemerkt habe, dass ich mit meinen alten Ansichten so nicht mehr weiterleben kann. Ansichten, die ich seit jeher als zutiefst wahr empfunden habe. Sich dies einzugestehen und auch zuzulassen ist schon ein sehr schmerzhafter Prozess. Aber danach ist es mit den Herausforderungen noch nicht vorbei. Nach den ersten Freuden der neu gewonnen Freiheit, dem guten Gefühl zu sich selbst zu stehen und sich selbst zu vertrauen, der Aufregung Neues zu entdecken und dabei immer wieder überrascht zu werden von der Schönheit des Lebens, gibt es immer wieder Momente des Zweifels und der Schuldgefühle. Was, wenn sich Gott hier gerade durch diese Gefühle bei mir meldet und mir zeigen will, dass ich auf dem Holzweg bin? Verwirrung tritt ein. Unsicherheit. Immer neue Kreisläufe des Hinterfragens.

Ermutigung durfte ich in einem besonderen Buch des Psychologen Arno Gruen finden. In „Wider den Gehorsam” beschreibt er die psychologischen Zusammenhänge von striktem Gehorsam in der Erziehung und wie dies Kinder und junge Menschen daran hindert, eine gesunde, eigenständige Lebendigkeit und Persönlichkeit zu entwickeln. Gerade Kinder sind zu 100% von ihren Bezugspersonen abhängig. Deren Zuwendung und Versorgung sind absolut überlebensnotwendig. So kommt ein Kind in einen immensen inneren Konflikt – quasi eine Entscheidung auf Leben und Tod – falls diese Zuwendung abhängig davon ist, es den Bezugspersonen immer recht zu machen und absolut gehorsam zu sein. Es muss sich entscheiden: Auf der einen Seite stehen die eigenen Bedürfnisse, Wahrnehmungen, die eigenen Autonomie – auf der anderen Seite Schutz, Geborgenheit und Zuwendung der Bezugspersonen. Ein Kind entscheidet sich meist unbewusst für Zweiteres. Es unterdrückt das Eigene und richtet sich ganz und gar auf die Autoritätsperson und deren Werte aus. Wer sich früh dieses Verhalten antrainiert hat, bekommt dies nicht so schnell wieder los. Das Produkt sind autoritätshörige Erwachsene, die sich schwer tun, autonom zu sein und für sich selbst zu denken. Erwachsene, die mit Schuldgefühlen kämpfen, wenn sie eine Autorität hinterfragen. Das Eigene und die damit verbundene Lebenskraft und -freude fehlen. Denn zu sich selbst zu stehen, selbst zu denken und zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, wird unbewusst immer noch als Gefahr wahrgenommen. Sicherheit bedeutet, sich ganz und gar der übergeordneten Autorität hinzugeben. Das Fiese daran ist, dass man so Verletzungen, Manipulationen, Grenzüberschreitungen und andere böse Handlungen der akzeptierten Autorität nicht mehr als solche erkennt. Man identifiziert sich mit der Aggressorin oder dem Aggressor und sieht sie oder ihn als einzig wahr und gut an. Schuld sucht man eher bei sich selbst. Am extremsten wird diese Dynamik wohl beim allgemein bekannten Stockholm-Syndrom sichtbar.

Im christlichen Weltbild und auch in der Erziehung wird absoluter Gehorsam groß geschrieben. „Ihr Kinder gehorcht euren Eltern,…” usw. Gott selbst zeigt sich als jemand, dessen Schutz und Fürsorge für mich nur gesichert sind, wenn ich mich selbst aufgebe, hingebe und unterwerfe. Mein ewiges Leben steht wortwörtlich auf dem Spiel, wenn ich das nicht tue. Christ_innen drehen das zwar gerne um und behaupten, dass sie gehorchen, weil Gott sie so sehr liebt und nicht damit er sie erst liebt, aber die Lehre von Himmel und Hölle spricht für mich klar eine andere Sprache. Gott oder der Bibel zu widersprechen, zieht die Angst vor der ewigen Qual in der Hölle nach sich. Das heißt, meine einzige Option ist, mich diesem Gott unterzuordnen, wenn ich sicher und geborgen sein möchte. Damit ich dann aber nicht immerzu im inneren Konflikt mit mir selbst und meinen Bedürfnissen stehen muss, muss ich mich selbst aufgeben und nur das lieben, was Gott liebt und das hassen, was er hasst. Aber das ist ja kein Problem, denn Gott ist ja einzig wahr und gut. Ich bin ja hier die oder der Böse. Mhm, das kommt mir bekannt vor… 

Nun wieder zurück zu meinen Schuldgefühlen. Die Parallelen zwischen Gruens Theorie und meinem christlichen Aufwachsen öffnen mir die Augen. Meine Schuldgefühle zeigen mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Auf meinem eigenen Weg zu mir selbst und raus aus der blinden Autoritätshörigkeit. Ein Weg zu mehr Leben und Freude. Der Weg, ein mündiger Mensch zu sein. Ich wage es, selbst zu denken. Ich wage es, die Welt selbst zu entdecken. Ich wage es, mich aus der Identifikation mit dem_der Aggressor_in zu lösen. (Ich möchte Gott hier nicht als Aggressor darstellen, aber sehr wohl das Bild, das viele Christ_innen von ihm haben.) Und ich wage es, zu behaupten, dass ein guter Gott das spitze finden würde.

Ich hoffe das ermutigt auch jeden von euch, der oder dem es ähnlich geht wie mir. Zweifel und Schuldgefühle sind in einem Dekonstruktionsprozess ganz normal und gehören dazu. Und man darf sich meiner Meinung nach auch sicher sein, wenn es einen liebenden Gott gibt, der das Beste für mich will, dann wird ein schlechtes Gewissen das Letzte sein, mit dem er sich bei mir meldet, wenn ich auf dem Holzweg bin.

Von Andy (Instagram: @sceptical_andy)

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