Es gibt wenige Dinge, die mich wirklich stolz auf meinen Vater machen. Nicht, dass er ein schlechter Mensch wäre, nur sind die meisten seiner Leistungen für mich nicht von grosser Bedeutung. Das Hocharbeiten als Arbeiterkind oder all die gewonnenen Wettkämpfe sind mir schnuppe. Doch eines macht mich verdammt Stolz. Nämlich wie er seine kognitive Dissonanz auflöste, als er den Widerspruch zwischen Queerfeindlichkeit in unserer Freikirche und seinem schwulen Arbeitskollegen erkannte.
Damals sollte gerade eine LGBT Olympiade1 in Zürich stattfinden und in der Freikirche wurde beraten, wie dagegen vorgegangen werden sollte. Er war dabei selber einer der “Zwölf Ältesten”, welcher den Weg der Gemeinde bestimmte. Er erzählte mir später, dass er ein grosses Unwohlsein in diesem Moment verspürte.
Dieses Unwohlsein und Nachdenken führte dann dazu, dass wir wenige Monate später als Familie aus dieser Freikirche ausgestiegen sind. Aus meiner damaligen Sicht war das ganze sehr abrupt. Doch heute, gerade auch mit meinem wissenschaftlichen Hintergrund, weiss ich, wie viele Prozesse davor gekommen sind. Der Ausstieg hatte die sozialen Konsequenzen die viele von uns Aussteiger*innen kennen. Eine soziale Isolation. Jene war aber bei uns sicher weniger extrem als bei anderen. Denn wir waren in der Gesellschaft ausserhalb der Freikirche durchaus auch verankert, auch wenn der Mittelpunkt klar in der Freikirche war.
Ich habe nicht mehr allzuviele Erinnerungen an diese Zeit. Primär war für mich der Verlust meines besten Freundes schwierig, doch darüber hinaus war es halt so wie es war. Für meine Eltern dürfte es schwieriger gewesen sein, ein neues Wochenend-Programm zu finden. Und damit umzugehen, dass uns doch einige sehr explizit zu verstehen gaben, was nun von uns zu halten wäre. So bleibt für mich primär der Fokus darauf, dass dieser Moment wohl etwas vom Tapfersten ist, was mein Vater je gemacht hat. In den Spiegel zu schauen und zu merken, wo der Hass der Gemeinschaft, der er angehörte, hinführte und die richtigen Konsequenzen daraus zog.
Mir sind an dieser Geschichte drei Punkte besonders wichtig:
Erstens zeigt sie, dass auch Menschen, die jahrelang in einem fanatischen Umfeld unterwegs sind, sich verändern können. Diese Veränderungen sollten wir gezielt unterstützen und darum halte ich ein Projekt wie @freikirchen.ausstieg für besonders wichtig. Aber das ist eine Aufgabe, die nicht nur bei privaten Akteur*innen liegen sollte. Es braucht breite staatlich geförderte Hilfe. Inklusive öffentlicher Aufklärung, dass diese Hilfe existiert und sich Aussteiger*innen melden können.
Zweitens sollten wir uns bewusst sein, dass die Anzahl an Personen, die ihre kognitive Dissonanz so auflösen, wie mein Vater es am Schluss getan hat, die Ausnahmen sind. Das heisst, dass wir als Gesellschaft einen Weg finden müssen, wie wir mit fanatischen Menschen in unserer Mitte umgehen, welche ihre Entscheidungen auf einen 2000 Jahre alten Fantasyroman stützen, statt auf Vernunft und Empathie. Das müssen wir klar benennen und nicht einfach als “Spleen” abtun. Sei es im privaten, auf der Arbeit oder auf einer staatlichen Ebene – indem wir die Dinge klar benennen und klar besprechen und uns nicht vor dem Konflikt verstecken.
Drittens: Diese Gruppen sind eben nicht nur “Muslime”, sondern christliche Gruppierungen, die mitten unter uns leben. Menschen, welche in Parteien wie der EDU2 aktiv sind. Sich am “Marsch fürs Lebä” beteiligen und damit aktiv versuchen, eine progressive Gesellschaft zu zerstören. Wir sind in der Schweiz zum Glück nicht am selben Punkt wie in den USA was dies betrifft. Doch wir können dort sehr gut sehen, dass christlicher Fanatismus eine reale politische Kraft ist, die im grossen Stil Einfluss nehmen kann. Und nur weil wir das in der Schweiz nicht so ausgeprägt sehen, verzögern diese Kräfte dennoch Prozesse und verschwenden Ressourcen welche wir für einen echten Fortschritt brauchen.
Fussnoten:
- Kontext: Dies dürfte ungefähr 1998 gewesen sein. Begrifflichkeiten wie LGBTQIA+/ Queer waren da noch nicht üblich. Es ist sogar gut möglich, dass es da nur um Schwule/ Lesben ging. ↩︎
- Eidgenössisch-Demokratische Union, eine christliche und nationalkonservative Partei in der Schweiz. ↩︎
/Jonas
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