Vom Verbot der Selbsterkenntnis

Ich habe knapp 20 Jahre lang einer evangelikalen Freikirche angehört.

So selbstverständlich, wie es für die spirituelle Szene und für viele andere Menschen ist – in der Freikirche war Selbsterkenntnis nicht erwünscht. Schlimmer noch: Selbsterkenntnis wurde als etwas extrem Negatives angesehen. Etwas, was uns von Gott wegtreibt, in die schlechte Welt.

Letztendlich sollten die Gedanken immer bei Jesus sein. Was natürlich unmöglich ist. Doch schon ein einfacher Gedanke daran, etwas zu tun, was mit mir selbst zu tun hat, konnte starke Schuldgefühle auslösen. Fühlte man sich nicht gut oder erlebte etwas Schlimmes, so musste das an der „instabilen“ Beziehung zu Gott liegen. Du hast kein Vertrauen, du zweifelst, hieß es.

Aus meiner Sicht hat es nichts mit Reflexion zu tun, andauernd zu glauben, man hätte etwas Falsches oder Schlechtes getan. Oder um Vergebung zu bitten, weil man ihre oder seine kurze Freizeit ausnahmsweise mal nicht mit der Bibel verbringen möchte. Ein schlechtes Gewissen zu haben, weil man „negativ“ über jemanden dachte (die oder der einen schikaniert).

Selbsterkenntnis, aber auch „etwas für sich selbst tun“ – das gab es also nicht. Schließlich sollen wir Gott und unseren Nächsten dienen und unsere Eltern ehren. Selbsterkenntnis wurde als Esoterik angesehen und würde laut zahlreichen Evangelikalen bedeuten, dass wir uns selbst dienen. Und das durfte nicht sein.

Die allumfassende Frage, die sich in der Freikirche stellte, war: Wie kann ich mich am besten für Gott einbringen? Wie kann ich am besten von Nutzen sein? Schwer zu sagen, wenn man sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen darf. Zumal Selbstfürsorge eine wichtige Grundlage ist, um überhaupt anderen Menschen (sinnvoll) dienen zu können.

Und nicht schwer zu erraten, dass dies zwar „funktioniert“ und kleinhält, aber für sehr viel Leid sorgt. Eigene Bedürfnisse wahr- und ernstzunehmen, Grenzen setzen, Selbstfürsorge, Selbstbestimmtheit und sogar Selbstakzeptanz – das war alles nicht Teil des Plans, den ein angeblicher Gott für uns haben sollte. Aber welches Gottesbild haben die Evangelikalen? Das Bild eines bösen, strafenden und ungnädigen Gottes? Ein Gott, dem man sich unterwerfen muss?

Ich bin mir zwar sicher, dass es nicht die Absicht war, bewusst zu schaden. Und doch hinterlässt ein solches Denken und Handeln Spuren.

Heute kann ich einen Weg gehen, der mir und meiner Natur entspricht, doch das dauerte viele Jahre. Heute möchte ich mich gern für andere Menschen einsetzen, doch heute ist es meine persönliche Entscheidung.

(Selbstverständlich trifft meine Erfahrung nicht auf alle evangelikalen Personen, Gruppen oder Gemeinden zu. Und ich bin auch der Meinung, dass ein konstruktiver Glaube Kraft geben kann.)

Von Sara (Instagram: @eine_frage_des_blickwinkels)

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