Wer sich mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen möchte, kommt an der Bibellektüre kaum vorbei. Sie ist nicht nur Grundlage der Predigt, sondern hält häufig auch im Alltag Einzug, im Sinne der „Stillen Zeit“. Stille Zeit bedeutete früher für mich, dass sich die Zeit genommen wird, persönlich in der Bibel zu lesen, um Gott dort zu begegnen, und auch, um Richtlinien für das eigene Leben zu erhalten. In der Jungschar habe ich als Kind sogar eine Art „Anleitung“ erhalten, die neben dem Lesen auch die Schritte „Beten für das Verständnis der Bibel“ vor und nach der Lektüre beinhaltete.
Warum ich das heute problematisch finde, ist in diesem Gebet eigentlich schon aufgeführt. Auf der einen Seite wird die Bibel in die Position erhoben, Gottes konkretes Wort zu sein, und wird somit für gläubige Menschen zum Wegweiser und Moralkompass für das eigene Leben. Auf der anderen Seite ist die Bibel aber sehr schwer zu verstehen. Es gibt viele verschiedene Übersetzungen, es gibt Urtexte in zwei antiken Sprachen, es gibt Übersetzungsfehler und viele Widersprüche. Im Alten Testament zum Beispiel findet man unzählige Stellen, in denen Gott rohe Gewalt anwendet, die dem Bild des liebenden Gottes so sehr widersprechen. Dann wird gesagt, Verse sollen nicht aus dem Kontext gerissen werden. Wird etwas nicht verstanden, soll der Vers mehrfach gelesen werden, für das Verständnis soll gebetet werden. Kurzum – die Bibel ist kompliziert und es braucht Hilfe, um sie „wirklich“ zu verstehen, und auf das eigene Leben anwenden zu können.
Wenn diese Hilfe darin besteht, „Gott zu fragen“, oder den „Heiligen Geist“ zu bitten, habe ich damit heute ein Problem. Denn auch wer sich ganz sicher ist, Gott oder den Heiligen Geist wirklich zu hören, und sich von ihm die Bibel erklären zu lassen, kann sich doch letztendlich nie sicher sein, ob sie oder er nicht im tiefsten Herzen die eigenen Gedanken gehört hat. Es wird also ein recht widersprüchlicher Text genommen und über die Eingebung einer höheren Macht für die Einzelne_ oder den Einzelnen_ interpretiert. Wirklich überprüfen kann man es nicht.
Ich habe oft erlebt, dass dieselbe Bibelstelle aus derselben Übersetzung von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich ausgelegt und interpretiert wurde. Wenn ich mich dann selbst mit dem Vers beschäftigt habe, hat er auf mich nochmal ganz anders gewirkt. Wer hat nun Recht? Das, was ich glaube von Gott erfahren zu haben, oder das, was Pastor_innen, oder Mentor_innen mir dazu sagen, was mitunter eine ganz andere Interpretation sein kann? Wie kann hier die Bibel die unumstößliche Wahrheit sein, die in mein Leben sprechen darf und an der ich mich orientieren soll?
Es gibt auch andere Quellen, die hilfreich sind, um die Bibel zu verstehen: theologische und historische Hintergründe. Ich finde es heute essenziell, sich auch mit dem größeren Kontext der Bibel zu befassen, und nicht nur mit ihrem Inhalt allein. In meiner Zeit als Christin habe ich mich beispielsweise nie damit befasst, wie die Bibel eigentlich entstanden ist – dass es sich über viele Jahre um lose Manuskripte handelte, die zusammengetragen, zusammengefasst und übersetzt werden mussten zum Beispiel. Je mehr ich über diese Hintergründe lerne, desto weniger kann ich die Bibel als Gottes konkretes Wort verstehen, denn dafür haben in ihrer Entstehungsgeschichte zu viele Menschen willkürliche und unwillkürliche Veränderungen vorgenommen.
Von Sandra (Instagram: @insight.and.out)
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