Inhaltshinweis / Content Note: Erwähnung von Homophobie
Weihnachten.
Dieses Wort, das seit meiner Kindheit nach Glanz, heimeligen Gefühlen, spiegelnden Kugeln, Geheimniskrämerei, Weihnachtsliedern, ferngesteuerten Autos, Unmengen an Süßigkeiten, Lichtern und festlichen Gottesdiensten klingt. Nach heiler Welt. Nach Gottes Licht in dunklen Zeiten – irgendwie sind die Zeiten immer dunkel in Predigten und Jesus, die Lösung für alles, kommt auf die Welt.
Inzwischen ist Jesus für mich ein Beispiel, wie religiöse Geschichten versuchen, den Menschen zu trösten und wie sie versuchen, ritualisiert alle Ereignisse des Lebens zu begleiten. Die Erlebnisse bedeutend zu machen.
Ein guter Freund von mir wurde kürzlich operiert. Der Tumor hatte mehr Organe angefressen als erwartet und ihm wurden Rektum, eine Niere, die Blase, ein Teil des Zwölffingerdarms und ein Teil des Magens entfernt. Ich wohne 300 km entfernt und kann nicht sofort ins Krankenhaus. An Weihnachten werde ich ihn besuchen und ich weiß nicht, wo ich die Kraft herholen soll, ihm Mut zu spenden. Gestern Abend betete ich aus Angst, Sorge und Liebe. Für den Fall, dass da oben jemand zuhört. Ich denke, diese Hoffnung wird mich immer ein Stück begleiten und gleichzeitig glaube ich ein wenig widersprüchlich, dass es kein Jenseits gibt, keine spirituelle Welt, keinen himmlischen Vater und keine himmlische Mutter. Ach, wäre das schön, wenn die Welt so schwarz/weiß wäre.
Aber: Nein, es wäre bzw. war nicht schön. Homosexuelle haben beim Christkind nichts zu suchen. Jesus liebt bedingungslos, aber wenn ich freiwillig „der Sünde fröne“, dann kann er nicht in meinem Herzen wohnen. Aus meinem freikirchlichen und strengen Hintergrund und meiner Biographie bleibt das Gefühl zurück: Das ist alles furchtbar kompliziert mit der Theologie, aber jedenfalls müssen wir schon ein paar Bedingungen stellen. Gott liebt dich aber irgendwie auch nicht. Der Himmel ist die Hoffnung, aber solltest du selbst denken und nicht spuren, haben wir die Hölle für dich. Die Engel beschützen dich, aber bis heute überkommt mich plötzlich die Angst vor dämonischen Erscheinungen.
Seit ich auf dem Weg bin, habe ich sehr viel mehr Fragen. Immer weniger Antworten. Für manche bin ich „verloren“ oder „vom Weg abgekommen“. Mit Menschen aus meiner alten Kirche komme ich kaum in tiefe Gespräche. „Du warst früher so brennend.“ Zur Homosexualität wollen sie nichts sagen. „Wir lieben dich.“ Doch ich weiß, dass im Kopf die Klammer auf ist, „aber nicht wie du bist, nicht, was du tust, nicht, dass du uns kritisierst“. Nach vier Sätzen kommt bereits eine Verurteilung. Ich stehe da, wie vom Donner gerührt. Alle Gedankengänge, Kämpfe, jahrelangen Recherchen und Informationen, theologischen Überlegungen und Bemühungen meinerseits werden weggewischt mit einem Satz, weil ich nicht mehr die richtige evangelikale Zauberformel aufsage. I‘m naughty, not nice.
Es ist kalt. So viele Beziehungen sind weggebrochen oder oberflächlich geworden, weil ich nicht mehr den Schmarrn nachplappere. Und doch suche ich die spirituelle Tiefe. Es ist dunkel. Ich tröste mich nicht mehr mit meinen Gebeten über die Paradoxa hinweg. Ich akzeptiere, dass nicht alles beantwortet werden kann. Aber ich sehe meine Mitmenschen anders. Ich verstehe plötzlich die jüdische Kollegin, die das Lichterfest als Atheistin feiert, um sich traditionell zu verwurzeln, um ihre Sehnsucht zum Heimatland auszudrücken und um ihre Identität nicht gänzlich aufzugeben. So schmücke ich auch meine Wohnung mit Lichterketten und Kugeln, die besonders toll aussehen und meine Kindheitsgefühle wiederholen. Ich merke: es ist schon weniger Schmerz geworden. Ich will die Kindheit nicht zurück. Aber ein bisschen Erinnerung. Ich halte die Augen offen: Wer ist da noch, wer braucht Gesellschaft? Ich bemerke, dass es sich ganz anders verhält: so viele nette anders- oder nichtgläubige Menschen. Ich glaube nicht mehr, dass alle in die Hölle kommen. Eugen Drewermann half mir da ein großes Stück weiter: Wenn es Gott gibt, würde er dann nicht in Liebe und Erbarmen eines Tages all die Kommunikations-Missverständnisse aufheben? Würde er uns nicht versöhnen, mit uns selbst und miteinander? Und spiegelt sich darin nicht bereits etwas Göttliches?
So gehe ich mit meinem verlorenen Jesus und meinem neuen Gott, der nicht existiert und gleichzeitig alles versteht, einen dunklen, kalten Weg. Aber etwas mutiger, etwas schmerzfreier. Ich glaube, ich habe die Kraft dafür. Aber für manches auch nicht. Ich bete für meinen kranken Freund und ich werde ihm christliche Worte sagen, wenn er es braucht. Wir werden über Peniswitze lachen und über die Sinnlosigkeit seines Schicksals verzweifeln. Hoffentlich hab ich in den Feiertagen schwulen Sex und finde darin göttliche Eskalation. Ich werde „Stille Nacht“ mit meiner Familie singen und mich wie ein Kind freuen. Ich werde denen, die mich verurteilen, freundlich ins Gesicht sehen und ihnen ihre Christlichkeit vergeben. Ich werde Celine Dions Special Times hören, endlich ist es mir mit Mitte dreißig egal, welche Leichen ich im Plattenkeller liegen hab.
Vielleicht gehe ich sogar in einen Gottesdienst, weil ich gern das weihnachtliche Gedöns höre. Meine Krippe ist nicht kaputt, das ist Kunst. Ein Durcheinander. Eine kreative Melange. Gottlose Freude. Mit Humor gespickt und mit einem Licht in mir selbst. Die Gewänder meiner Weisen glänzen flamboyant. Mein Josef war vielleicht schwul. Ich schmücke mir mein Weihnachten selbst. Und die Gäste sind ein Potpourri von Königen, Eseln, Schafen, Ochsen und Dahergelaufenen. Mitten im Leben, da wo wir hingehören. Man kann vieles behaupten, aber mein Säkularisierungsprozess ist biblisch 🙂
Ende. Baum abschmücken. Ich glaube, ich bin jetzt realer in der Gegenwart. Packe die Dinge an und lebe mein Leben. Schreibe meine Biographie und gehe Schritte immer noch unsicher, aber es gibt nicht mehr so viel Falsch. Es ist einfach echt. Und viel wahrer als früher.
Eugen
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