Mit 33 beschloss ich, meinen Job aufzugeben, um Gott „ganz“ nachzufolgen. Meine Wahl fiel dabei auf eine meiner Meinung nach neocharismatische Bibelschule, die Menschen zu „Erweckungsträger:innen“ ausbildet. Irgendwann wurde ich an dieser Schule angestellt und war als Prediger in Deutschland, Pakistan, Israel und am Gazastreifen unterwegs. Denn es gab „einen Missionsauftrag zu erfüllen“, der mit unglaublich stressigen und traumatischen Situationen verbunden war. Das nahm ich auf mich, als „Gesalbter des Herrn“, als jemand, der von Gott berufen ist, Seelen aus der Hölle zu retten – eine Hölle, an die ich heute nicht mehr glaube.
Nichts davon war ich wirklich! Ob das alles meiner Seele gut tut, stand nicht zur Diskussion. Schließlich galt es, das eigene Leben ganz „dem Herrn“ zu geben, was bei mir einen Prozess der Selbstentfremdung auslöste. Es entspricht nicht meiner Persönlichkeit, einen „Herrn“ in meinem Leben haben – ich liebe es, selbstständig zu sein, Verantwortung für meine Entscheidungen zu übernehmen, ich mag Freund:innenschaften auf Augenhöhe und keine „Puppet Masters“. Es war für mich immer eine gänzlich absurde Vorstellung, jemanden in meinem Leben zu haben, der die Fäden zieht, um Dinge zu kontrollieren und um seine persönlichen Ziele durch mich zu erreichen.
Eine permanent einsetzende, mentale Überlastung zwang mich, über Dinge in meinem Leben nachzudenken. Die ständigen Forderungen, Aufgaben und Erwartungen fühlten sich irgendwann wie Gift für meine Seele an. All das setzte mir mental extrem zu – schlaflose Nächte, viele Tränen und die Erkenntnis, dass ich mit dem angeblichen Willen Gottes jede Menge Bullshit in das Leben fremder Leute gelabert hatte… Ein extremer Prozess der Selbstreflexion, rabenschwarze Nächte, in denen ich nicht wusste, wie es weitergehen würde. Mein gesamtes Glaubensleben stürzte ein. Freunde distanzierten sich und redeten über mich, Scham, eine unfassbare Traurigkeit. Die schmerzliche Erschütterung darüber, dass ich mich selbst so lange belogen hatte, Dinge als „wahr“ bezeichnet hatte, die ich weder persönlich noch theologisch geprüft hatte – Gott sei Dank habe ich damit angefangen. Die Fragen reichten so weit, dass es unmöglich wäre, sie in einem so kurzen Text zu eruieren: Von Sex vor der Ehe über die Frage, ob man überhaupt glücklich mit einer Weltanschauung der Hölle und ewiger Verdammnis leben kann, bis an den Punkt, ob es Gott überhaupt gibt.
Sich all diesen Fragen zu stellen, war ein Prozess einer unbeschreiblichen Unsicherheit und zugleich das Beste, was mir jemals passiert ist. Die innere Freiheit, diese Fragen mitunter einfach unbeantwortet lassen zu dürfen und die Welt so zu betrachten, wie ich es schön finde, kann mir niemand mehr rauben. Tatsächlich würde ich mittlerweile sagen, dass ich eine Lebensqualität zurückgewonnen habe, die meinen Verstand übersteigt. Ich bin nach wie vor spirituell – ich finde das schön! Dass ich mit meinen dogmatischen Ansichten innerlich gescheitert bin, verdanke ich Gottes Gnade – insofern es ihn wirklich gibt. Es war ein anstrengender, mutiger Schritt, mich den falsch anmutenden, inneren Dogmen zu stellen, die sich so vertraut anfühlten.
Heute habe ich die Freiheit, Menschen jeglicher Ansicht zu respektieren, zu lieben und stehen zu lassen. Die Separation in „Gläubige vs. Sünder“ ist gottlob gewichen. Und ich meine damit nicht, dass ich alles unkommentiert lasse oder unkritisch bin. Ich entscheide für mich und mein Leben und vertraue tatsächlich nach wie vor darauf, dass es eine Entität in diesem Kosmos gibt, die Dinge antreibt und gestalten möchte. Ich persönlich glaube daran, dass die Liebe die Kraft ist, die mir durchs Leben hilft – mir hilft, die Welt zu verstehen, Menschen zu begegnen und ein erfülltes Sein zu genießen. Ich selber habe permanent gepredigt, dass „die Liebe bedingungslos sei“ und diese rhetorisch geschickt mit Ansprüchen verknüpft. Heute bin ich mir trotzdem sicher: Wahre Liebe ist tatsächlich bedingungslos!
Ich persönlich achte heute mehr darauf, wem ich Einfluss in meinem Leben zugestehe. Ich erkenne toxischen Einfluss inzwischen besser. Menschen, die es gut mit mir meinen und mich lieben, wollen mich nicht verändern, verbiegen oder brechen. Sie fragen nach, bieten Hilfe an und lassen mich einfach sein, so wie ich gerade bin. Ich muss nicht besser werden, irgendwelchen Ansprüchen genügen, irgendetwas tun oder lassen. Bei solchen Menschen darf ich einfach zu Hause, ich selbst, angekommen sein.
Sollte es Gott geben, dann wäre das mein Mindestanspruch an ihn. Vielleicht ist Gott auch einfach da, ohne sich ständig zu manifestieren. Vielleicht ist Gott einfach ein anderes Wort für Liebe, Leben, Genießen, Freund:innenschaft, Sonnenschein und Baden im Sommer… Und sollte es Gott geben und er diese Ansprüche nicht erfüllen, wieso um Himmelswillen sollte irgendwer Interesse daran haben, eine Beziehung zu ihm zu haben?
Sebastian
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