Zweifeln ist mutig, wichtig und wahrhaftig. Ich erlebe immer wieder sehr eindrücklich: Durch Zweifeln kommt die Wahrheit ans Licht. Nur durch Zweifeln. Alles, was durch das Zweifeln zu bröckeln beginnt, war schon von vornherein nicht tragfähig. Doch jetzt erst fällt es auf. Die Risse im Weltbild lassen sich nicht mehr kaschieren. Zweifel führen mich zur Wirklichkeit, die ich Gott nenne. Zweifeln ist Glauben für Fortgeschrittene. Vieles von dem, was Religionen und Weltanschauungen fanatisch festhalten und verteidigen, muss gerade nur deshalb so verbissen festgehalten und verteidigt werden, weil es nicht tragfähig ist. Weil es von ganz allein zu bröckeln beginnt. Darum muss permanent gegen Zweifel gearbeitet werden. Ansonsten droht der Käfig der Sicherheit einzubrechen. Die Freiheit macht Angst, deshalb muss das Kartenhaus verteidigt werden. Es geht nun nicht mehr nur um einen Glaubenssatz, sondern um die ganze Person, die auf dem Spiel steht. Der Zweifelnde wird zur Bedrohung und muss also bekämpft und ausgeschieden werden.
Es erscheint mir, dass der Unterschied zwischen einer Wahrheit und einer Lüge ist: Die Lüge muss festgehalten und aufrechterhalten werden. Die Wahrheit hält mich fest und richtet mich auf. Wie viel, von dem, was wir glauben oder glaubten, ist vielmehr Lüge als Wahrheit (gewesen)? Durch den Zweifel geläutert, kann ein reifer, mündiger Glaube in mir erwachsen, in dem sich nur noch eines als wirklich wichtig erweist: die Liebe. Sie ist die Größte. Sie kann nicht mit Worten beschrieben werden. Sie übersteigt begriffliches Denken und partielles Fühlen. Sie ist all das, was mich am Leben erhält. Was ist also das innerste Wesen der Wirklichkeit? Die Liebe, sagt schon Hans-Peter Dürr, Schüler Heisenbergs. Alles, was der Liebe widerspricht, egal ob es ein:e Pastor:in, der Papst oder die Bibel persönlich sagt, ist nicht wahr, betont schon Augustinus. Wahrheit ist nur dann wahr, wenn es Liebe ist. Wirklichkeit ist nur dann wirklich, wenn es Liebe ist. Alles andere ist Lüge! Egal wie fromm, wahr und wirklich es scheinen mag.
Der Zweifel führt mich zum Kern der Wahrheit, zur innersten Wirklichkeit und zur Wurzel des Glaubens. Gott ist für mich Liebe. Durch den Zweifel wird mein Gottesbild und alles, was ich für wahr und wirklich erachte, geläutert. Im Schmelztiegel des Zweifels ist es die Liebe, die wir so dringend brauchen, die als Einzige übrig bleibt. Gott. Der Zweifel hat mich also nicht von Gott weggeführt. Wie auch? Gott ist die innerste Wirklichkeit, bemerkt schon Bultmann. Der Zweifel hat mich zu ihm hingeführt. Ich habe an allem anderen gezweifelt: an meinem Gottesbild, an der Kirche, an mir, an Glaubenssätzen, an Menschen, aber nicht an Gott. Dieser Gott ist in allem, bei allen und liebt alle, genau so, wie sie jetzt gerade sind. Wahrheit. Wirklichkeit. Liebe. Gott. Glaube nicht, zweifle! Denn der Zweifel ist der große Bruder des Glaubens.
Martin
Hier geht es zum Beitrag auf Instagram