Contentwarnung: Im folgenden Text wird das Thema Purity Culture behandelt.
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Hallo, mein Name ist Viola und ich habe mich bereit erklärt, bei einer funk-Reportage mitzumachen, die sich mit dem Thema evangelikale Aussteiger:innen beschäftigt. Die Reaktionen in der Kommentarleiste haben mich ziemlich beschäftigt – an dieser Stelle ein riesengroßes Dankeschön an die Aussteiger-Community, die mir in der Kommentarleiste und auch abseits davon den Rücken gestärkt hat!
Ich möchte hier von der entscheidenden traumatischen Erfahrung sprechen, die damals der Auslöser für meinen Austritt war. Da sie in der Reportage den Rahmen gesprengt hätte, wurde der Fokus auf andere Themen gelenkt. Allerdings erzählt diese Geschichte davon, wie ich begriffen habe, dass ich als Mitglied einer Freikirche nicht über mein eigenes Leben bestimmen konnte. Dabei geht es nicht darum, dass der Glaube mir die Freiheit geraubt hätte, es war die Freikirche in der ich aufgewachsen bin. Außerdem muss ich betonen, dass dies nur MEINE Erfahrung ist. Ich möchte hier nicht für andere sprechen, auch wenn ich weiß, dass andere Ähnliches in Freikirchen erlebt haben: emotionale Manipulation mit „geistlichen“ Mitteln. Machtmissbrauch. Innere Zerrissenheit zwischen Gehorsam und Selbstbestimmung.
Ich war damals 18 Jahre alt, als ich mich zum ersten Mal verliebt hatte. Meine damaligen Freundinnen waren sich schnell einig, dass diese Beziehung nicht förderlich für meinen Glauben sei. Anstatt mein erstes Verliebtsein zu genießen, musste ich also die Beziehung verteidigen. Dabei ging es nicht um ihn als Person, sondern um seinen “geistlichen Status”, denn er war nicht in einer Gemeinde!
Durch meine damaligen Freundinnen wurde auch der Gemeindeleiter auf dieses “Problem” aufmerksam und wollte mit mir sprechen. In dem Gespräch fragte er mich nach der sexuellen Beziehung zu meinem Freund. Ich weiß noch genau, wie ich schlagartig rot wurde und die Frage als sehr intim empfand. Lügen konnte ich nicht, deshalb erzählte ich ihm, dass ich eine sexuelle Anziehung empfand. Diese, so erklärte er mir, dürfe nur in einer Ehe existieren – oder in einer Beziehung in der beide Partner sehr gefestigt im Glauben seien. Früher oder später würde ich vorehelichen Sex haben und somit der Sünde Einzug in mein Leben geben. Ich ging nach Hause, tränenüberströmt, und beendete die Beziehung. Doch das Verliebtsein war zu stark, sodass ich meine Entscheidung rückgängig machte, mich für die Beziehung entschied und somit für ein – in den Augen der Anderen – sündhaftes Leben. Dass meine Beziehung nicht den christlichen Maßstäben entsprach, hing wie eine Wolke über meinem Leben, das immer noch hauptsächlich von dem Gemeindeleben bestimmt war. In den darauffolgenden Monaten hinterfragte ich nach und nach was passiert ist. Darf ein anderer Mensch auf so eine Art und Weise in mein Leben eingreifen? Durfte er mir diese Fragen stellen? Ist das nicht eigentlich MEIN Leben? MEINE Entscheidungen, MEIN Christinsein! MEINE Sexualität! MEINE Gefühle! MEINE Beziehungen!
Ungefähr ein Jahr später war ich bereits am studieren, da sagten mir meine Eltern, dass der Gemeindeleiter angerufen habe und mich sprechen wolle. Ich wusste, dass es um die für ihn „sündhafte“ Beziehung gehen würde und er ein Folgegespräch wollte. Ein Folgegespräch, bei dem sicherlich erneut das Thema Sexualität im Raum stehen würde. Ich rief ihn am Telefon zurück und da ich sowieso noch eine „Bescheinigung für pädagogisch leitende Tätigkeiten“ für mein gerade begonnenes Lehramtsstudium brauchte, nutzte ich dieses Anliegen direkt zu Beginn des Gesprächs. Ich hatte die Hoffnung, dass er sich dadurch ablenken ließe. Doch er fragte mich direkt – ein wenig small-talk-mäßig, wie es mir mit meinem Glauben und der Beziehung gehe. Ich bedankte mich für die Nachfrage und sagte, dass es mir gut gehe. Daraufhin bestand er dennoch auf das Gespräch und ratterte ein paar biblische Begründungen runter um seine Autorität als Pastor in den Vordergrund zu stellen. Für mich stand schon vor dem Telefongespräch fest, dass ich mich unter keinen Umständen erneut auf ein Gespräch mit ihm einlasse. Warum? Weil ich Angst hatte, Angst dass erneut in mein Leben interveniert wird. Angst vor seinem Charisma, Angst davor, dass mein selbstbestimmtes Leben, das ich gerade angefangen hatte zu führen, wieder zerstört wird bevor es beginnen konnte. Etwas in mir entschied sich dafür, dieses Leben zu verteidigen.
Anstatt mein Anliegen zu erfüllen, nutzte er dieses um mich zu erpressen. Er sagte, wenn ich nicht mit ihm reden wolle, könne er mir diese Bescheinigung nicht geben. – Diese Erpressung ließ mein Fass überlaufen: An dieser Stelle verlor ich jeglichen Respekt gegenüber dieser Person! Ich schrie ihn unter Tränen am Telefon an und empfand unendliche Wut, denn schließlich stand mir diese Bescheinigung zu! Diese unzähligen Stunden an freiwilligem Engagement in der Gemeinde waren in dem Moment für ihn nicht mehr valide, als ich mit einem fremden Mann nicht über meine Sexualität sprechen wollte!
Ich entschloss mich dazu, die Gemeinde zu verlassen. Der Austritt ist dann eine eigene Geschichte – er hat sich über Jahre gezogen, das Statement der Gemeindeleitung gegenüber der funk-Reporterin lautete: „Viola ist freiwillig ein- und ausgetreten“, aber was ist „freiwillig“ in einem Konstrukt, das auf Machtmissbrauch und emotionaler Manipulation basiert?
Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass zum Lösen vom christlich-fundamentalistischen Glauben mehr gehört, als jetzt endlich Harry Potter lesen und Mandalas malen zu können. Ich habe auf der Basis des Glaubens mein Leben in „Gottes Hände“ gegeben und stellte fest, dass es stattdessen in die Hände von machtsüchtigen Menschen gefallen ist. Ich nahm mir mein Leben zurück, Stück für Stück. Und bin noch lange nicht am Ziel angekommen.
Von Viola
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