Content Note / Inhaltshinweis: Erwähnung von Hölle
In meiner Dekonstruktion habe ich mich gefragt, was für mich eigentlich so schlimm in meinen Glaubenszeiten war. Lange Zeit konnte ich es gar nicht benennen, es war eher ein diffuses Gefühl, das mich wütend gemacht hat.
Irgendwann bin ich über das Wort Ambivalenz gestolpert, das mein Gefühl beschreibt. Ambivalenz bedeutet so viel wie Widersprüchlichkeit. Die gab es in meinen Glaubenszeiten überall um mich herum, aber keiner hat darüber geredet! Die Diskrepanz zwischen der Liebe, die gepredigt wurde und wie die Realität für mich aussah, war deshalb oft nur schwer auszuhalten. Aber anstatt spannende und bereichernde Unterhaltungen darüber zu führen, wurden meine Unverständnisse und Anregungen unter den Teppich gekehrt. Alle „problematischen“ Fragen wurden auf die persönliche Beziehung mit Gott abgeschoben. Für mich blieben diese Fragen dann oft über Jahre ungeklärt und brodelten immer wieder nach oben. Die wenigen Antworten, die ich bekam, waren aber genauso ambivalent wie die Fragen, die ich hatte.
Beispielsweise habe ich Gottes bedingungslose Liebe zu den Menschen nie damit vereinbaren können, dass Gott schlussendlich einen Teil dieser Menschen, die er liebt, für die Ewigkeit in die Hölle wirft.
Als Antwort auf diese Frage bekam ich meistens gesagt: „Es ist Gott sehr wichtig, dass wir Menschen uns an seine Regeln halten und uns also ‚gut‘ verhalten. Wenn wir dies nicht tun, sind wir Sünder:innen und müssen damit in die Hölle, weil bei Gott kein Platz für Sünde ist. Wir dürfen uns, da wir diese Spielregeln kennen, dann selbst entscheiden, wo wir lieber die Ewigkeit verbringen. Gott wirft uns also aus Respekt vor unserer eigenen Entscheidung in die Hölle, aus Liebe könnte man sagen.“
Gott liebt „Sünder:innen“ also gewissermaßen in die Hölle. Für mich zeugte dies nie von einem Respekt vor der Entscheidung der „Sünder:innen“ sondern eher von Kleinkariertheit und Selbstbezogenheit. Gott hält es nicht einmal aus, Sünder:innen im Himmel um sich zu haben. Ein Lieben, das nur mit Abstand und Trennung funktioniert, hat mit bedingungsloser Liebe wenig zu tun. Gott zeigte sich mir in diesen Erzählungen und Logiken daher sehr ambivalent.
Aber auch das Verhalten der christlichen Menschen und kirchlichen Institutionen um mich war von Ambivalenz geprägt. Queere Menschen wurden beispielsweise „geliebt“ (Nächstenliebe galt ja für alle Menschen), aber nicht akzeptiert. Mir ist bis heute unklar, wie man Liebe von Akzeptanz kognitiv abkoppeln kann. Ist Akzeptanz nicht eine Vorstufe und damit unabdingbar für Liebe? „Liebe ist viel größer als Akzeptanz“ war hier die Antwort. Auch in Bezug auf Menschen, die anderen Religionen angehören, ging die Nächstenliebe nicht so weit, dass man mit ihnen tatsächlich Zeit verbringen oder reden wollte. „Mission ist ja der viel größere Dienst am Nächsten.“
Gott weiß es besser als die Menschen und darf sich daher das Recht nehmen, uns die Hölle als Liebesakt zu verkaufen. Christ:innen wissen es besser als queere Menschen und dürfen diese daher aus Liebe nicht akzeptieren. Sie wissen es auch besser als Menschen anderer Religionen und dürfen diese deshalb missionieren, ohne sie wirklich kennenzulernen. Gottes Ambivalenzen gehen nicht spurlos am Verhalten christlicher Menschen vorbei. Sie werden als Vorbild genommen.
Ich habe diese Unstimmigkeiten gespürt und gemerkt, dass oft die Menschen und ihre Bedürfnisse in und außerhalb der Kirche ganz vergessen wurden. Ich habe aber nie verstanden, warum wir darüber nicht diskutieren und reden konnten. Warum wir unsere Gottesvorstellungen nicht hinterfragen durften und uns neue Eindrücke von Gott verschaffen konnten. Ambivalenzen müssen Raum finden und Gemeinden müssen offen sein für Dialoge und einen Realitätscheck. Denn für mich war diese Zerrissenheit zwischen meinen Werten und den Taten in allen meinen religiösen Institutionen irgendwann so unaushaltbar, dass ich gegangen bin. Heute gibt es ein paar freikirchliche Gemeinden und Gruppen, die offen sind und Lust haben, Ambivalenzen auszuhalten, gesellschaftlich wichtige Themen ernst nehmen und Menschen und ihren Gedanken Raum lassen. Das macht mich sehr glücklich. Es sind aber zu wenige und schon gar keine bei mir in der Nähe. Dennoch habe ich außerhalb des Glaubens gelernt, Widersprüchlichkeiten zu feiern und auszuhalten, weil sie schön sind und verschiedene Menschen, Ideen, Theorien, Werte und Sichtweisen die Welt bunt machen. Ich hoffe, dass auch die Mehrheit der Kirchen das irgendwann erkennt.
Debbie
Hier geht es zum Beitrag auf Instagram