Mein langer Weg

Contentwarnung: Im folgenden Artikel werden selbstverletztendes Verhalten, Suizidialität und Esstörung thematisiert.

Mich beschäftigt immer wieder sehr, wie viel Zeit es mich gekostet hat, mich von den massiven Indoktrinationen meiner Kindheit freizumachen. Das ist brutal und unfair. So viele Jahre des Kampfes, so viel vertane Lebenszeit.


Vor 34 Jahren war meine Aussage, einer ehemaligen Chefin gegenüber, die mich sehr hilfsbereit und aufmerksam mit einem Psychologen in Kontakt bringen wollte: „Ich gehe zu keinem Psychologen. Hilfe kann ich nur durch mich selbst und Gott erfahren.“ Ein wahres Bekenntnis meines lebenszerstörenden Glaubens. Und „unchristliche Therapie“ mit Psychotherapeut:innen durfte nicht sein. Ich war zu der Zeit schwer magersüchtig und suizidgefährdet, übervoll mit Angst, Depressionen und Not. Nahrungsverweigerung als Suizid auf Raten. Ein Klinikaufenthalt, für den ich mit 17 eingewiesen werden sollte, war von meinen Eltern aus religiösen Gründen abgelehnt worden. Und als ich dann 18 war, war das ehrliche Hilfsangebot meiner Chefin für mich undenkbar. Ich war voll neben der Spur, neben jeder realen Spur.


Ich bin dann für lange Zeit in eine religiöse Seelsorgeeinrichtung gegangen. Dort wurde die religiöse Übergriffigkeit im Großen und Ganzen aber nur fortgeführt und so wurde ich weiter traumatisiert. Und danach war ich sehr lange Zeit immer noch nicht in der Lage, mich in eine professionelle therapeutische Behandlung zu begeben. Therapeut:innen mussten unbedingt selbst fromm sein.  Daher war ich bereit, lieber selbst zu bezahlen, weil die Krankenkasse die Kosten nicht übernahm – nur weiter half es mir nicht.


Die göttliche Guillotine hing stets über mir, ich erwartete jederzeit, dass das göttliche Fallbeil gleich hinunter vom Himmel sausen und mich für ewig in die Hölle verbannen würde. Das war grausam und so war es noch bis vor kurzem. Jede kleinste Befreiung, jeder Schritt musste so hart erkämpft werden, gegen die furchtbarsten Schuldgefühle und religiösen Ängste. Knapp 15 Jahre später, nach meinem erneuten völligen Zusammenbruch, kamen die kritischen Fragen zum Glück noch gehäufter auf – aber leider nicht mit weniger Höllen-Ängsten. Leider war ich dabei immer ganz alleine und verbrachte die ganze Zeit in der Bemühung, einen freundlicheren Gott zu finden. Ich war noch weit davon entfernt, den Glauben ganz über Bord werfen zu können.


Später habe ich es gewagt, meinen frommen zweiten Vornamen Grace offiziell über Bord zu werfen und gegen meinen jetzigen Namen umzutauschen. Nun bedeutet mein Name „die Freigeborene“. Vom fürchterlichen, mich quälenden Bild von Gnade und Sühneopfer wollte ich mich unbedingt befreien.


Aber es sollte noch gut zehn weitere Jahre dauern, bis ich dieses Kapitel heute endlich abschließen kann. Diese Angst ist jetzt wirklich weitestgehend überwunden. Ich kann dieses Thema, des angeblichen stellvertretenden Sühneopfers Jesu, seinen Wahrheitsanspruch, von dem mein Wohl und Wehe in Form von Himmel oder Hölle abhänge, endlich hinter mir lassen. Was war das aber für eine Qual bis dahin. Unter der großen Einsamkeit mit diesen ganzen Themen habe ich unendlich gelitten.
Von außen ist sicherlich unvorstellbar, wie viel gestohlene Lebenszeit und Lebenskraft dieser Prozess mich gekostet hat. Gäbe es einen Gott, würde ich ihn für diese gestohlenen 50 Jahre meines Lebens nach dem Opferentschädigungsgesetz verklagen. Derzeit bin ich der Meinung, dass es Gott nicht gibt. Anzuklagen sind also Gottes selbst ernannte Stellvertreter:innen auf der Erde – zuvorderst meine Eltern.


Leider gilt das Opferentschädigungsgesetz nicht für emotionale und religiöse Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen. Das müsste meiner Meinung nach unbedingt geändert werden. Zudem bräuchte es Einrichtungen und Anlaufstellen zum Schutz von Minderjährigen vor religiöser Indoktrination, die ihnen dabei helfen, ihr Recht auf eigene Religionsfreiheit auszuüben. Hierzu gehört für mich auch die Sensibilisierung von Erzieher:innen und Pädagog:innen.


Ich würde sehr gerne Kinder davor schützen können, dass ihnen so viel Lebenszeit völlig unsinnig genommen wird und sie solchen jahrzehntelangen inneren Qualen ausgesetzt werden. Denn für mich war es die Hölle auf Erden. Und der Prozess geht auch jetzt noch weiter, gegen die Angst. Ich bin heute so dankbar dafür, dass ich nicht mehr alleine bin mit diesen Themen.


Manchmal frage ich mich, ob das Schicksal mir dafür zum Ausgleich wenigsten noch einige gute Jahre beschert, das wäre doch nur  fair. Einen wirklichen Ausgleich für die gestohlene Lebenszeit kann es nicht geben. Aber zu einer Akzeptanz muss ich dennoch finden, auch wenn das für mich keine leichte Aufgabe ist…

Erja

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