Ich habe mich selbst und meine Freundinnen immer gefragt, wer wir wohl wären, wenn wir keine Christinnen wären. Ich meinte auch immer ganz genau zu wissen, wer ich im Vergleich zu meinem freikirchlich-fundamentalistischen Ich wäre, wenn ich Gott nicht hätte. Ein witziges Gedankenspiel.
Ich dachte mir, ich wäre:
- politischer
- feministischer
- größerer Fan von Musiker:innen
- experimentierfreudiger
- hätte immer was am Laufen mit Jungs
Hier bin ich, verheiratet seit ich 22 bin, seit drei Jahren am Dekonstruieren meines fundamentalistischen Glaubens, den ich damals für so liberal hielt. Wir sind beide seit einem Jahr ausgestiegen und noch nicht gänzlich geoutet.
Und ich bin hier, habe gerade zum vierten Mal in meinem Leben geraucht, in der Badewanne, während im Wohnzimmer Hauskreis ist. In unserer ursprünglich christlich-fundamentalistischen WG mit unseren Mitbewohnern, die wahrscheinlich ahnen, was Sache ist, weil wir seit neun Monaten in keinem Gottesdienst mehr waren.
Hier bin ich, nicht mehr und nicht weniger politisch, nur ein wenig freier und selbstbewusster in meinen Ansichten, die ich eigentlich schon immer hatte.
Hier bin ich, nicht mehr und nicht weniger feministisch, nur klarer darüber, wie schlimm das Bild von weiblich gelesenen Personen unter anderem bei Christ:innen ist. Bewusster darüber, was Purity Culture bei Heranwachsenden anrichtet, hinsichtlich ihres Selbstbewusstseins, Körperbilds, Beziehungsfähigkeit, Platz in der Gesellschaft und natürlich ihrer Sexualität.
Und hier bin ich, frei, am Ausbrechen, Grenzen neu austesten und Abstecken, verdammt nochmal am Rausfinden wer ich bin, nach 21 Jahren gehorsamer Fremdbestimmtheit.
Hier bin ich, etwas lost, eingeschüchtert, introvertierter, weniger selbstreflektiert und zurückgezogener, weil mein Boden weggerissen wurde und niemand so viel und permanent sich selbst reflektiert und optimiert, wie fundamentalistische Christ:innen. Um noch ein bisschen
- heiliger
- gehorsamer
- Jesus gleicher
- richtiger
- vorbildhafter
- fröhlicher
zu werden.
Und hier bin ich einfach mal. Ein bisschen lost, aber so erleichtert.
Anna
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