„Ich stand mein ganzes Leben unter dem enormen Druck, alles richtig machen zu müssen“

Als ich geboren wurde, glaubte niemand in meiner Familie wirklich an Gott. Aber meine Eltern lebten noch nicht lange im Ort und suchten Anschluss, da bot sich der sogenannte Miniclub der (Landes-)Kirchengemeinde an – junge Eltern mit ihren Kindern im Alter von null bis drei Jahren. Nebenbei wurde „die gute Botschaft“ von Jesus Christus verkündigt. Kurz nach meiner Geburt kam meine Mama dadurch zum Glauben an Gott und an seinen Sohn Jesus Christus, der für ihre Sünden und ihre Probleme am Kreuz gestorben war. Als ich fünf Jahre alt war, übernahm sie mit dem Wegzug der sehr evangelikal geprägten Pfarrersfamilie die Leitung des Kindergottesdienstes. So besuchte ich ihn mit wenigen Ausnahmen wöchentlich, bis ich schließlich mit dreizehn Jahren konfirmiert wurde. Während meiner gesamten Kindheit war ich mindestens zweimal wöchentlich bei christlichen Angeboten – es gab eine Gruppe für Vor- und Grundschulkinder, eine Kinderstunde, den Bibelleseclub und Jugendtreff. Außerdem jährlich stattfindende Kinderfreizeiten und Kinderbibelwochen und mit meiner Mama natürlich das volle persönliche „Coaching-Programm“. Laut Erzählungen meiner Mama – ich selbst kann mich daran nicht mehr erinnern – habe ich im Alter von etwa acht Jahren Jesus in mein Leben eingeladen und bin „errettet“ worden.

Bei all diesen kirchlichen Angeboten waren vor allem zwei Punkte für mich prägend und beeinflussten mein Denken, mein Handeln und meine gesamte Lebensweise. Erstens: Die Bibel ist Wort für Wort wahr, jeder Aussage in der Bibel muss bedingungslos Glaube geschenkt werden. Deshalb wird die Bibel an sich ganz bewusst nicht „historisch-kritisch“ als Schriftdokument betrachtet, sondern als geschriebenes Wort Gottes. Und zweitens: Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich müsste alles über den Glauben wissen. Ich traute mich nicht mehr, vielleicht falsche Antworten zu geben oder Fragen zu stellen, aus Angst davor, dass meine Mama oder andere Mitarbeitende mich dann für „zu schwach glaubend“ halten würden. Das heißt aber auch, dass ich die mir vorgelebte Einstellung „Unser Glaube ist der einzig wahre und wer anders glaubt, glaubt falsch“ bedingungslos akzeptierte und nichts hinterfragte.

Zum Zeitpunkt meiner Konfirmation sah ich diesen kirchlichen, traditionell-religiösen und damit verpönten Akt, als mein persönliches, lautes „Ja!“ zum Leben mit Jesus. Mit zunehmendem Alter schlüpfte ich schließlich von der Rolle des zuhörenden Kindes in die einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin, die ihren Glauben an Jüngere weitergeben konnte. Im Alter von etwa 15 Jahren besuchte ich mit meiner Mama eine Veranstaltung mit einem externen Prediger in einer freien Gemeinde, in der sie sich hatte taufen lassen. Mich berührten viele seiner Aussagen, zum Beispiel ein Leben zu führen im Bewusstsein, ein Königskind, ein „Ritter für Gott“ zu sein. Dieser Abend löste in mir eine aktivere Auseinandersetzung mit dem Glauben aus, was für mich bedeutete, dass ich im Glauben mit Gott persönlicher wurde, wirklich danach lebte, was meine Mama mich gelehrt hatte und es ernst meinte mit Gott und dessen Einbezug in mein Leben. Ich entschied mich für ein Leben zu seiner Ehre und setzte mich bewusst damit auseinander, was Gott für mich und mein Leben möchte. Daraufhin besuchte ich die Gottesdienste der freien Gemeinde regelmäßig, fast jeden Sonntag. Zusätzlich habe ich aktiv in der Bibel gelesen, gebetet, christliche Lobpreismusik gehört, Konzerte und Worship-Abende besucht, in Freistunden im leeren Klassenzimmer Predigten gehört oder christliche Bücher gelesen. Ich war kurz davor, mich taufen zu lassen, hatte aber irgendwie Angst und fühlte mich zunehmend dazu gedrängt, weshalb ich mich nicht überwinden konnte.

Als ich dann mit meinem heutigen Freund zusammen kam, der nicht christlich aufgewachsen ist, geriet mein Glaube und damit auch mein Weltbild immer mehr ins Wanken. Dennoch – nach dem Abi fuhr ich im Sommer auf eine einwöchige Freizeit in einer deutschen Bibelschule. Während meiner Zeit dort war das „Wirken des Heiligen Geistes“ allgegenwärtig. Zungenrede, prophetische Zeichen, Fallen im Geist, all diese als charismatisch verrufenen Dinge passierten dort wirklich und ich genoss diese Bestätigung meines Glaubens. Doch es war der letzte Höhepunkt – danach fiel ich durch den Aufprall auf die reale Welt außerhalb der Bibelschule in ein tiefes Loch. Das erste Mal spürte ich nun, dass mein Glaube einer Seifenblase glich, die beim Auftreffen auf die Realität einfach platzte und mich fallen ließ. Fragen drängten sich mir auf: Ist die Bibel wirklich Gottes Wort? Warum ist Gott im Alten Testament oft so grausam? Warum wurden manche historische Schriften in die Bibel aufgenommen, andere nicht? Warum brauchte es Jesus und seinen Kreuzestod, wenn Gott uns doch schon immer geliebt hat? Und wie glaubwürdig sind die Geschichten über die Schöpfungsgeschichte, die Wunder Jesu und seine Auferstehung? Woran erkenne ich, ob ich wirklich die Wahrheit glaube?

Ich war ziemlich verzweifelt und überfordert von all den sich mir aufdrängenden Fragen, auf die ich keine Antwort fand und so habe ich mich bewusst von Gott abgewandt. Dabei habe ich vor allem eines gemerkt – ich stand mein ganzes Leben unter dem enormen Druck, alles richtig machen zu müssen, Gott nicht enttäuschen zu dürfen, der Sünde und Satan widerstehen zu müssen. Jetzt, wo das wegfällt, geht es mir so viel besser! Ich bin frei und kann diese Freiheit auch genießen. Ich habe erfahren, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Ich kann selbst dazu beitragen, dass es mir besser geht und muss nicht passiv auf Gottes Eingreifen warten. Und doch sind viele der Fragen geblieben. Fragen, die mein früherer Glaube ohne weiteres beantwortet hat, jedoch kann ich diesen Ansichten heute nicht mehr glauben und so fallen diese alten Begründungen weg. Doch vielleicht sind diese Fragen auch unbeantwortbar und es ist ein Charakteristikum von Religionen, dass sie nur von diesen beantwortet werden können…

anonym

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