LGBTQIA* – Das war ein abstraktes Konzept, das nur anonyme andere betrifft

Als ich circa 15 oder 16 und in der Hochphase meines Glaubens war, war für mich klar, dass ich später mal mit einem Mann verheiratet sein und wir Kinder, ein Haus mit Garten und vermutlich diverse Haustiere haben würden.

Ich habe immer voller Überzeugung gesagt, dass ich meine Kinder jung haben möchte. Mit Mitte 20, spätestens. Wie ich das mit Studium und Job unter einen Hut bringen würde, hatte ich noch nicht ganz herausgefunden. Aber das würde sich schon regeln. Oder Gott würde es regeln. Schließlich hatte er ja einen perfekten Plan für mein Leben. Zweifellos inklusive Ehemann und Kindern! Da würde er sich wohl auch Gedanken darüber gemacht haben, wie das mit Studium und Arbeit funktionieren wird.


Auch meine Haltung zum Thema Homosexualität war ganz klar: „Love the sinner, hate the sin“, Ehe & Adoption für homosexuelle Menschen soll nicht erlaubt sein und im besten Falle erkennen diese Menschen auch, dass sie eigentlich für eine heterosexuelle Beziehung bestimmt sind.
 
Fast Forward sechs Jahre: Ich bin eine queere Frau und Kinder sind in meiner aktuellen Lebensplanung nicht vorgesehen. Bei meinen Freund:innen die selber auch Teil des LBGTQIA*- Spektrums sind fühle ich mich so so wohl, frei und daheim, wie es in meiner Gemeinde nie möglich gewesen ist. Mit der Erkenntnis, dass ich queer bin, kam nicht nur eine Freiheit im Denken, sondern auch eine große Freiheit darin, wie ich mich präsentiere. Ich hatte immer schon das Gefühl, nicht so ganz in die Schablone hineinzupassen, die die Gesellschaft und vor allem die Gemeinde für Frauen vorgesehen hatte. Ich war weder leise noch angepasst noch besonders feminin. Ich gab aber mein Bestes, um die Erwartungen, die an mich und meine Weiblichkeit gerichtet waren, zu erfüllen und in die Schablone zu passen: Vor meinem inneren Coming-out war ich immer darauf bedacht, mich in einer Art und Weise zu präsentieren, die cisgender-heterosexuelle Männer ansprechend finden. Also mich nicht zu auffällig und ausgefallen kleiden, im Gespräch die Zuhörerin zu sein, meine wilde und übermütige Seite nicht zu intensiv auszuleben, um potentielle Partner nicht zu verschrecken. Ich habe mich selbst immer aus einem männlichen Blickwinkel betrachtet. „Wenn ich das trage, wie werden das Jungs finden, die mich auf der Straße sehen?“ Ich wusste, auf einem Date stelle ich viele Fragen und höre zu. Von mir selber darf ich nicht zu viel sprechen, sonst wirke ich fordernd und raumeinnehmend.


Seit der Erkenntnis, dass ich queer bin und ich somit nicht (mehr) exklusiv für cishet Männer präsentabel sein „muss“, hat sich das deutlich verändert. Ich muss nicht mehr versuchen, meine Unangepasstheit, Wildheit und Lautheit zu unterdrücken. Es ist in Ordnung, eine Meinung zu haben und diese laut zu vertreten. Es ist in Ordnung, wenn ich nicht für irgendwelche Menschen, meistens Männer, Fürsorge- und Carearbeit leisten will, nur weil ich eine Frau bin. Ich kann mich anziehen, wie es mir gefällt. Wenn das in meinem Fall bedeutet, dass ich den Großteil meiner Zeit in Männerhosen und mit Hauben auf dem Kopf existiere, ist auch das absolut in Ordnung.
 
In meiner Jugend und lange vor der Erkenntnis, queer zu sein, hatte ich schon mehr intime und sexuelle Erfahrungen mit Frauen, als ich an einer Hand abzählen kann. Das hat jedoch nichts daran geändert, dass ich mich als heterosexuelle Frau wahrgenommen habe. Ich dachte, dass es ganz normal sei, wenn sich Freundinnen küssen, dass alle Frauen andere Frauen attraktiv finden, oder ich habe es als betrunkene Erfahrungen abgetan. Es hat Jahre gebraucht, um zu realisieren, dass all diese Dinge eventuell darauf hindeuten könnten, dass ich queer sein könnte.


Ich bin der Meinung, dass das unter anderem daran liegt, dass ich keine Möglichkeit hatte, mir die Option, homosexuell zu sein, überhaupt vorzustellen. In der Gemeinde wurde über Homosexualität entweder gar nicht oder negativ gesprochen. Und wenn, dann auch nur in Bezug auf Männer. Nie über Anziehung zwischen Frauen. Nie als konkrete Option für das eigene Leben. In meinem Denken waren weder Worte noch greifbare Vorstellungen dafür vorhanden, was es heißt, homosexuell zu sein. Das war ein abstraktes Konzept, das nur anonyme andere betrifft. Deshalb konnte ich alle meine homosexuellen Erfahrungen auch nur in ein heterosexuelles Raster einordnen. Erst nachdem ich schon lange dekonstruiert hatte und zur Atheistin geworden war, erst nach langer und intensiver Beschäftigung mit Feminismus, Intersektionalität und der LGBTQIA*-Bewegung hatte ich Worte und Konzepte, um mich selbst als queere Frau zu imaginieren, um zu überdenken, ob ich wirklich einen Ehemann und Kinder will. Und erst jetzt kann ich die queeren Erfahrungen und Empfindungen (auch meiner Jugend) als solche einordnen. So tief hatte sich die freikirchliche Indoktrination in mein Gehirn gefressen und das, obwohl ich nur wenige Jahre Teil einer Gemeinde war.
 
Das liegt natürlich auch an einer heteronormativen Gesellschaft, in der Homosexualität wenig Platz hat und kaum gezeigt wird. Aber gerade dieser extreme Fokus auf Reinheit, auf Sexualitätsverzicht und auf die verschiedenen Rollen und Pflichten von Mann und Frau, der in Gemeinden gelebt wird, verstärkt diese Effekte massiv. Meine Zeit in der Gemeinde hat definitiv dazu beigetragen, dass ich zu 100 % der Überzeugung war, heterosexuell zu sein, obwohl ich bereits sexuelle Erfahrungen mit Frauen gemacht und genossen hatte. Wie wohl mein 16-jähriges Ich reagieren würde, wenn es sich selbst als 23-Jährige sehen könnte?

Hannah

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