Ich wuchs in einer evangelikalen Gemeinde auf. Zunächst machte ich überwiegend gute Erfahrungen. Es war schön, an einen Gott zu glauben, der freundlich auf mich blickte und einen Plan für mein Leben hatte. Ich erhielt viele gute Anregungen für mein Leben. Und das, was verkehrt war, konnte ich in der Beichte bekennen und es bedrückte mich nicht mehr. Doch die positiven Erfahrungen schlugen bald in das Gegenteil um. Je mehr ich in der Bibel las, desto verletzlicher wurde das Gewissen, desto größer wurde ganz allmählich die Angst vor der Strafe Gottes. In der Bibel gab es den Hebräerbrief. Darin war zu lesen, dass Gott Gläubige trotz tiefster Reue in die Hölle stoßen konnte, wenn sie „zu viel“ gesündigt hatten. Was war nun „zu viel“? Wie sollte man das zuverlässig einschätzen? Hatte nicht Jesus Christus versprochen „Wer immer zu mir kommt, den werde ich nicht zurückweisen“? Der bekannte Reformator Martin Luther konnte mit dieser Erbarmungslosigkeit nichts anfangen und hatte deshalb den gruseligen Hebräerbrief als fehlerhaft eingestuft.
Meine Gemeinde aber hielt – wie der evangelikale Mainstream – eisern und betriebsblind an dem Dogma fest, dass die gesamte Bibel einschließlich des Hebräerbriefes unfehlbares, irrtumsloses Wort Gottes sei. Ich wurde belehrt, dass jede Person, die die Irrtumslosigkeit der Bibel anzweifelte, den Glauben zerstören und sich Gott erst recht zum Feind machen würde. So blieb ich also ohne überzeugende Antwort, bekam immer mehr Angst vor der Hölle und wurde dann psychisch schwer krank. Die Gleichgültigkeit der frommen Szene gegenüber solchen Lebenskatastrophen ist schon erstaunlich.
Durch die psychische Erkrankung wurde ich arbeits- und berufsunfähig. Auch alle Glaubenshoffnung war verschwunden. Eine aussichtslose, verzweifelte Situation. Damit wollte ich mich nicht abfinden. Vielleicht konnte die frühere Glaubenshoffnung ja wieder aufleben, und damit der Lebensmut, wenn der evangelikale Glaubenswahn nur eine allzumenschliche Verunreinigung einer ursprünglichen spirituellen Wahrheit war. Dies vermutete ich, da ich einigen Menschen begegnet war, bei denen die Kraft des Glaubens zu einer Verwandlung des Charakters geführt hatte, die mich zu tiefstem Respekt bewegte. Dieser Erfahrung wirklicher Liebe wollte ich in meinem Leben näher kommen und kraftvolle Impulse in diese Richtung nehme ich auch in der Bibel wahr.
Liebe ist in meinen Augen ohne Aufrichtigkeit nicht lebensfähig. Deshalb sollte jede christliche Glaubensgemeinschaft gestatten, dass nicht nur über positive Erfahrungen mit mutmachenden Bibelworten gesprochen wird, sondern dass auch Menschen zu Wort kommen, die über negative Erfahrungen mit problematischen Bibeltexten berichten. Außerdem gehört eigentlich in jede Bibelausgabe ein Hinweis, dass der Hebräerbrief sowohl von Martin Luther als auch von der frühen Kirche als sehr problematisch eingeschätzt worden war. Damit hätte man die größte Gefahrenquelle entschärft. Doch um die Aufrichtigkeit in der evangelikalen Szene ist es – ungeachtet der ständigen vollmundigen Lippenbekenntnisse – sehr schlecht bestellt, sodass man allgemein weiter in dem Wahn befangen ist, dass das ehrfürchtige kritiklose Lesen aller Bibeltexte allen nur guttun kann.
Nichts ist wirksamer als die hauseigene Ideologie mit den hauseigenen Werten und Argumenten selbst zu widerlegen. In mir entstand der Wunsch, die evangelikale Sekte nicht als Verlierer zu verlassen, sondern ihren Einfluss nachhaltig einzudämmen. Nach soviel Defensive endlich befreiende Offensive! Leider ist seelische Erpressung mit Religion immer noch kein Straftatbestand. § 240 Abs. 2 StGB erkennt nur dann auf strafbare Nötigung „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“. Hier nimmt der Staat auf den Wunsch religiöser Gemeinschaften Rücksicht, die ihren Missbrauch nicht als verwerflich ansehen und weiter zu betreiben wünschen. Es wäre besser, das Bemühen Warnhinweise und Schadensmeldungen zu behindern unter Strafe zu stellen.
Die Bekehrung zum Atheismus ist für viele Menschen keine Lösung. Schon gar nicht darf sie aufgedrängt werden. Es wäre meiner Meinung nach wünschenswert, dass jede Glaubensgemeinschaft per Gesetz verpflichtet wird, im Internet eine Plattform für unzensierten Austausch einzurichten. So wird sich mancher der eigenen Verletzbarkeit rechtzeitig bewusst. Das religiöse Selbstbestimmungsrecht bleibt ein wichtiges Ziel. Jedes Mitglied sollte selbst entscheiden dürfen, welche Glaubensinhalte für die eigene Person sinnvollerweise beizubehalten sind. Denn von fachärztlicher Seite wird immer wieder die Beobachtung bestätigt, dass eine gesunde Spiritualität und Glaubenshoffnung der Seele in schweren Lebenskrisen Halt und Zuversicht geben kann.
Christian
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